Tanztage 2024

Kurz nach dem Festival-Eröffnungswochenende heizte das exilkubanische „Colectivo Malasangre“ mit Qué Bolero o En Tiempos de Inseguridad Nacional im Berliner Winter ein. Das war anfangs nicht zu vermuten: Betont unterspannt tasten sie sich heran, lange plätschert die Performance etwas ziellos vor sich hin. Latino-Karneval-Motive werden anzitiert und der Anführer des Trios gibt auf halber Strecke schließlich den Richtungswechsel vor: als schillernd-exaltierte Diva tänzelt er durch den Rest des Abends.

Irgendwann kommt man dann schließlich zum titelgebenden „Bolero“: einer der berühmtesten Repertoire-Klassiker der westlichen Moderne trifft auf eine laszive Workout-Performance des Trios Lazaro Benitez, Luis Carricaburu und Ricardo Sarmiento. Alle drei sind in den 1990ern auf Kuba geboren, das sich auch nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts weiter abschottete. Sie gingen nach Europa und kontrastieren das Meisterwerk französischer Kompositionskunst mit klischeehaften Gesten und Posen von lateinamerikanischem Machismo in Unter- und Reizwäsche. Das Spektakel mündet in einen Aufruf zur Freilassung politischer Gefangener auf der Karibik-Insel.

Erschreckend war, wie unsensibel und stumpf einige im Sophiensaele-Publikum fast die gesamte Show über mitfilmten und mit ihren hell erleuchteten Smartphone-Displays die gedämpfte Lichtstimmung störten. Dabei handelte es sich nicht um wenige Unverbesserliche, wie man es immer wieder mal erlebt, sondern um ein weiter um sich greifendes Ärgernis, das ein Fall für das Awareness-Team der Sophiensaele ist! Zum Glück waren solche Zustände an den weiteren Festival-Abenden, die ich besucht habe, nicht mehr zu erleben.

Wenige Tage später folgte im Hochzeitssaal im Dachgeschoss der Sophiensaele das Gastspiel „Fists to Flowers“ von Yotam Peled & The Free Radicals. Das Publikum gruppiert sich um das zunächst leere Rechteck, auf ihren Stühlen in jeder Ecke lauern die vier Performer*innen wie vor einem Boxkampf.

Bild: Mayra Wallraff

Knapp eine Stunde lang interagieren Erin O’Reilly und ihre drei Mitstreiter Andrius Nekrasovas, Nicolas Knipping sowie der israelische, in Berlin lebende Choreograph Yotam Peled mit viel Körperkontakt. Die Stimmung wechselt zwischen zärtlichen, sich gegenseitig beschützenden Momenten und testosterondampfend-aggressivem Kampfsport. Zeitgenössischer Tanz trifft in dieser ungewöhnlichen Arbeit auf Elemente aus dem Boxen und Wrestling: ein vielversprechender Auftritt!

Bild: Mayra Wallraff

Der dramaturgische Bogen wirkte noch nicht ganz schlüssig, da es zwischendurch eine Phase des Leerlaufs gab, bevor sich das „Weichwerden“ und „Verhärten“ der Körper fortsetzte, das die Ankündigung beschrieb.

Als minimalistisches Duett zu wummernden Beats beginnt „We are (nothing) everything“ von Makisig Akin (they/them) und Anya Cloud (she/they). Sie lassen sich gemeinsam über die Bühne treiben, verharren im Mittelteil eng umschlungen in einem ausgedehnten Moment der Stille und fahren das Energie-Niveau wieder hoch. Nach einem Wrestling-Kampf mischen sich die beiden Performer*innen unters Publikum, klettern auf ein Gerüst und küssen sich leidenschaftlich.

Bild: Mayra Wallraff

Im Abschluss-Statement betont Akin den Kampf für „Queer and Trans Liberation“ als zentrales Anliegen dieser Choreographie der „The Love Makers Company“ und stellt sich in die Tradition schwarzer Aktivistinnen wie Audre Lorde. Dies war aus der ca. 75minütigen Arbeit auch klar herauszulesen. Überraschend bruchlos ging das das Statement in eine vom Publikum bejubelte Solidaritäts-Erklärung mit Palästina über: der Kampf für Palästina und Trans-Rechte gehöre zusammen. Das kurze Statement mündete in einen „Ceasefire“-Appell, der offensichtlich den Nerv des Freie Szene-Publikums traf.

Bild: JC Carbonne

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert