Kultisch werden Hayao Miyazaki und sein Studi Ghibli für ihr Anime-Handwerk in manchen Kreisen verehrt. Eigentlich hatte der japanische Regisseur in Venedig 2013 angekündigt, sich mit damals 72 Jahren in den wohlverdienten Ruhestand zurückzuziehen. Doch wie Aki Kaurismäki machte auch dieser große, alte Mann des Kinos einen Rücktritt vom Rücktritt und vertiefte sich sieben Jahre lang in die Arbeit an „Der Junge und der Reiher“ (Original-Titel: „Kimitachi wa Dō Ikiru ka“). 

Der Film führt zurück ins Jahr 1943, als Japan im 2. Weltkrieg an der Seite von Nazi-Deutschland kämpfte und Bomben der Aliierten auf Tokio fielen. Dementsprechend düster ist dieses Alterswerk, Gefahr und Unsicherheit schweben über den Szenen, Unheil bringen wie bei Alfred Hitchcock vor allem unterschiedliche Vogelarten. Offensichtlich verarbeitet der Anfang des Monats 83 Jahre alt gewordene Miyazaki in diesem Setting eigene Kindheitserfahrungen. Neben dem Jungen Mahito kann auch dessen Urgroßonkel, der in einem Turm über eine Parallelwelt herrscht, als Alter ego des Regisseurs und Drehbuchautors interpretiert werden, wie Philipp Stadelmeier in seiner SZ-Kritik ausführte.

Charakteristisch für „Der Junge und der Graureiher“ sind die zwischen Realität, Traum und Fantasy-Welten hin- und herspringenden Handlungsfäden. In vielen Kritiken wurde moniert, dass es Miyazaki weniger gut gelang, die Motive zusammenzubinden und es zum Teil zu abrupten Sprüngen kommt.

Beeindruckend ist die große Fabulierfreude und Kreativität, mit der der Altmeister Fantasy-Welten entstehen lässt. Kleine visuelle Highlights sind die tänzelnden Warawara (ungeborene Menschenseelen), die einem Angriff der Killer-Sittiche ausgesetzt sind. Erstaunlich sind die Lust an der Phantasie und die jugendliche Frische dieser Sequenzen, denen man das sehr fortgeschrittene Alter des Maestro nicht anmerkt.

Die Handlung plätschert zwischen den Volten manchmal etwas unentschlossen dahin, findet aber zuverlässig immer ganz zu sich, wenn die beiden Titelfiguren aufeinanderprallen. Der Graureiher ist die vielschichtigste Figur des Films: verschlagen und raffiniert, in den entscheidenden Momenten aber doch auf der Seite des Jungen, dessen Heldenreise er begleitet.

„Der Junge und der Reihe“ kam schon im Sommer 2023 in die japanischen Kinos. Die internationale Premiere folgte in Toronto im September, in Deutschland war er erstmals beim „Around the World in 14 films“-Festival in der Berliner Kulturbrauerei im Dezember zu sehen. Wenige Wochen später startete er am 4. Juni in den Kinos. Kurz danach wurde der Film auch mit dem Golden Globe als bester Animationsfilm des Jahres ausgezeichnet. Trotz der genannten Abstriche ist Miyazakis vermutlich letzter Film auch für Zuschauer sehenswert, die diesem Genre sonst nicht viel abgewinnen können. Im März 2024 folgte verdientermaßen auch der Oscar für den besten Animationsfilm.

Bilder: © Studio Ghibli / Wild Bunch Germany

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert