Mehr als 600 Vorstellungen hat diese Puppentheater-Produktion bereits hinter sich. Dabei begann diese Produktion des Schubert Theaters Wien mit so vielen Zweifeln: Nikolaus Habjan, damals erst 24 Jahre jung, wollte ein Stück über Heinrich Gross machen, der erst in der SA, später in der SPÖ Karriere machte, am NS-Euthanasieprogramm in der Wiener Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund mitwirkte, jahrehntelang ein gefragter Gerichtsgutachter war und sich erst Jahrzehnte später für seine Taten verantworten musste. Ein Stück über einen „Frankenstein“ der Medizin schwebte ihm vor.
Glücklicherweise stießen Habjan und Regisseur Simon Meusburger auf eine noch interessantere Figur: Friedrich Zawrel, der aus einer Alkoholikerfamilie stammt, in Pflegeheimen aufwuchs, vor einer Pflegefamilie und aus der Schule davonlief und die menschenverachtenden Experimente an „erbbiologisch und sozial Minderwertigen“ während der NS-Zeit am eigenen Leib durchlitt.
Ohne abgeschlossene Ausbildung und mit den Vorstrafen im Register flog er nach Kriegsende bei diversen Leih- und Gelegenheits-Arbeitgebern schnell wieder raus, wurde kriminell und saß in Untersuchungshaft 1975 plötzlich wieder Heinrich Gross aus dem Spiegelgrund gegenüber. Der stempelte ihn in seinem Gerichtsgutachten als „Hangtäter“ ab und sorgte dafür, dass Zawrel in Sicherungsverwahrung kam.
Heinrich Gross als Puppe, Nikolaus Habjan, Friedrich Zawrel als Puppe
Zawrel wandte sich an kritische Journalisten und Mediziner, die den Wahrheitsgehalt seiner Schilderungen recherchierten und dafür sorgten, dass Zawrel frei kam und für seine Vorstrafen aus der NS-Zeit rehabilitiert wurde. Als alter Mann trat er regelmäßig vor Schulklassen auf und auch an der Entwicklung dieses Puppen-Dokumentartheaterstücks war er eng beteiligt. Zawrel erlebte die ersten Stationen des Erfolgs noch mit, z.B. die Verleihung des österreichischen Theaterpreises Nestroy für die beste Off-Produktion 2012, bevor er im Februar 2015 starb.
In diesem knapp zweistündigen Abend finden NS-Dokumentar-und Erinnerungstheater und Puppenspiel in einer sehr gelungenen Mischung zueinander. Trotz der schrecklichsten Erlebnisse einer Jugend, in der sich eine traumatische Erfahrung an die nächste reiht, hat sich Zawrel einen erstaunlichen Humor bewahrt, der in seiner Klappmaulpuppe weiterlebt. „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“ ist in manchen Passagen spannend wie ein Thriller, hervorragend recherchiert, mit Leichtigkeit und Witz präsentiert, so dass das Grauen erträglich wird.
Iris Laufenberg hatte den Abend schon während ihrer Grazer Intendanz im Repertoire und brachte ihn sowie zwei andere Habjan-Produktionen in dieser Spielzeit ans DT Berlin. Dort lief in den vergangenen Monaten noch nicht alles rund, aber dieses österreichische Gastspiel wurde mit minutenlangem stehendem Applaus gefeiert.
Bilder: © Lex Karelly Schauspielhaus Graz