Jede Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich, wusste schon Leo Tolstoi in seiner „Anna Karenina“. Ganz besonders unglücklich ist die Familie Lunies, die Matthias Glasner in seinem überlangen tragikomischen Panorama vorstellt.
Die Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken, ergänzt all die anderen Probleme, die diese Familie hat: Vater Gerd (Hans-Uwe Bauer) muss wegen Demenz ins Heim, Mutter Lissy (Corinna Harfouch) sitzt in der ersten Szene überfordert in seinen Exkrementen und wendet sich hilfesuchend mit dem Handy an Sohn Tom (Lars Eidinger). Auch sie hat wohl nicht mehr lange zu leben: sie kann nur mit Mühe laufen, zum Nierenversagen kommt auch noch eine Krebsdiagnose. Tom hat gerade alle Hände voll zu tun, da die Endproben für eine Komposition seines suizidgefährdeten Kumpels Bernard (Robert Gwisdek) in der Philharmonie, die er dirigieren muss, aus dem Ruder laufen, und seine Ex (Anna Bederke) ihn bei der Geburt des Kindes hat, da der biologische Vater (Nico Holonics) ein noch schlimmerer Vollpfosten ist. Die große Abwesende ist Ellie (Lilith Stangenberg), die sich ihren Job als Zahnarzthelferin schöntrinkt und eine Affäre mit dem verheirateten neuen Arzt der Praxis (Roland Zehrfeld) beginnt und es nicht mal zur Beerdigung schafft.
Geballte Prominenz ist in diesem deutschen Wettbewerbs-Film zu sehen und das Trio Eidinger/Harfouch/Stangenberg sorgen auch dafür, dass der mit drei Stunden viel zu lange, dramaturgisch sehr holprige Film nicht komplett enttäuscht.
Corinna Harfouch und Lars Eidinger in der Schlüsselszene als Mutter und Sohn am Küchentisch
Eine sehr starke Szene setzte Glasner ins Zentrum: nach der Beerdigung des Vaters sitzen sich Mutter (Harfouch) und Sohn (Eidinger) am Küchentisch gegenüber und werfen sich in gelassenem Ton die schrecklichsten Dinge an den Kopf. Sie haben sich nie geliebt, auch jetzt können sie sich nicht ausstehen: so lautet das Fazit dieses Tacheles-Gesprächs. Sonst haben sie sich nichts mehr zu sagen, außer wo das Sparbuch für die Beerdigungskosten der Mutter im Mantel im Schrank eingenäht ist. Stangenberg singt toll und hat einen Slapstick-Auftritt, in dem sie mit penetrantem Husten und Würgen das Konzert ihres Bruders torpediert, während sie die Zuschauerin in der Reihe vor ihr vollreihert.
Diese Drastik ist durchaus symptomatisch für den Film und sein Humorverständnis. Ansonsten zerfasert das Melodram, bis Lars Eidingers Tom schließlich ganz ergriffen das posthume Werk seines Kumpels nach dessen Suizid schließlich doch noch dirigiert.
Im Abspann und später auf der Pressekonferenz erfahren wir, dass in der unglücklichen Familie sehr viel Autobiographisches von Matthias Glasners Leben steckt, seinen dementen Vater markiert er auch im Abspann sehr explizit als Vorlage für den Film-Vater. „Sterben“ wird hier zur therapeutischen Familienaufstellung.
Zwölf Jahre nach „Gnade“ (mit Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr) meldete sich Glasner mit einem neuen Spielfilm zurück, der gleich wieder in den Berlinale-Wettbewerb eingeladen wurde und am 18. Februar 2024 Premiere hatte. Dazwischen lagen eine Polizeiruf-Episode und Serien wie „Blochin“ oder das Remake von „Das Boot“. „Sterben“ zählte zu den umstrittensten Filmen im Wettbewerb, die Jury verlieh Matthias Glasner dennoch und trotz der beschriebenen Schwächen einen Silbernen Bären für das beste Drehbuch.
Der Kinostart von „Sterben“ ist für 25. April 2024 geplant. Eine Woche später gewann „Sterben“ auch vier Lolas (als bester Film, Corinna Harfouch als beste Hauptdarstellerin, Hans-Uwe Bauer als bester Nebendarsteller sowie für die Filmmusik von Lorenz Dangel).
Bilder: Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator