Ellbogen

Kurz vor ihrem 18. Geburtstag wird Hazal Akgündüz bei einem Ladendiebstahl erwischt. Sie lebt im Wedding, ihre türkischen Eltern sind in der deutschen Gesellschaft nicht angekommen und lassen sich von der Erdogan-Propaganda berieseln.

Aysima Ergün springt in ihrem Solo im Studio des Gorki-Theaters gekonnt zwischen den Figuren hin und her: auf minimalistischer Bühne ohne größere Requisiten markiert sie die jeweilige Figur nur mit veränderter Stimm- und Tonlage. Von der Hauptfigur bis zum privaten Security-Mann, vom strengen Vater bis zur genervten Mutter hüpft die Schauspielerin von Rolle zu Rolle, am meisten Spaß scheinen ihr die aufgekratzten Freundinnen der Teenagerin zu machen.

Mit hohem Unterhaltungswert spielt die erste Hälfte des kurzen Abends mit den Stereotypen der deutsch-türkischen Integrationsdebatte. Dafür wurde schon Fatma Aydemir, die Autorin der Romanvorlage, gelobt, als ihr Debüt 2017 erschien und mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde. Das Publikum hat auch sichtlich Spaß und das Gorki ein Heimspiel, trifft diese komödiantische Auseinandersetzungen mit Migration und Nicht-Ankommen doch den Markenkern des Hauses.

Abrupt wechselt die Grundstimmung: die Teenie-Probleme um den Crush Mehmet und die Frage, wie man sich für den Club aufbrezelt, nur um dann vom Türsteher doch abgewiesen zu werden, weicht einem Ausbruch stumpfer Gewalt. Das Gefühl, in dieser Gesellschaft nicht willkommen zu sein, führt in einen Gewaltrausch, als Hazal und ihre Freundinnen den privilegierten Studenten Thorsten vor die U-Bahn stoßen.

Im zweiten Teil flieht Hazal nach Istanbul, atemlos stromert sie durch die fremde Stadt und wird schließlich dort Zeugin und Opfer brutaler Polizeigewalt, als die Polizei die Wohnungstür aufbricht. Bilder vom Putschversuch gegen Erdogan flimmern über die Videowand.

Murat Dikenci, der neue Leiter des Studio Я, hat dieses Solo eingerichtet, Anahit Bagradjans die Strichfassung des Romans erstellt. Vor kurzem lief eine „Ellbogen“-Verfilmung in der Generation 14plus-Sektion der Berlinale und beim achtung Berlin-Festival, Gorki-Ensemble-Mitglied Doğa Gürer spielte dort den Crush Mehmet. Das Gorki betraute bereits in der vergangenen Spielzeit Hausregisseur Nurkan Erpulat mit einer Adaption von „Dschinns“, dem zweiten Roman von Fatma Aydemir, der mit großem Ensemble auf die Bühne kam und den Friedrich Luft-Preis gewann. Bei „Ellbogen“ entschied man sich für eine kleinere, deutlich reduziertere Form, die zwangsläufig skizzenhafter bleibt. Im komödiantischen ersten Teil funktioniert das Konzept gut, in der zweiten Hälfte ging die Wucht des Stoffes verloren.

Diese zweite Hälfte war auch davon überlagert, dass Ergün das Flügelfenster aufriss. Straßengeräusche konnten nun hereindringen und die Inszenierung atmosphärisch unterlegen, aber die Gegend um die Museumsinsel ist nach dem Ansturm der Touristen tagsüber in den Abendstunden doch wesentlich beschaulicher als die pulsierende Metropole Istanbul. Immerhin war hin und wieder ein vorbeifahrendes Mofa zu hören. Dieses offene Fenster wurde jedoch zur Qual für das Publikum. Die bedauernswerten Zuschauer, die unmittelbar davor saßen, wussten gar nicht, wie viele Jacken sie noch überziehen sollen, um sich gegen den kalten Nordwind zu schützen, der das österliche Sommer-Intermezzo beendete und an diesem Theaterabend wie Hechtsuppe ins Studio hereinzog.

Bild: © Ute Langkafel MAIFOTO

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