Dschinns

Wenn man einem Neuling der Berliner Theaterszene den Markenkern des Gorki Theaters beschreiben möchte, könnte man weit ausholen oder sie/ihn in den neuen „Dschinns“-Abend von Nurkan Erpulat schicken, langjähriger Hausregisseur und Wegbegleiter von Shermin Langhoff schon vor ihrer Gorki-Intendanz am Ballhaus Naunynstraße.

Die treue Gorki-Fangemeinde hatte in dieser Spielzeit einige Durststrecken zu erdulden, aber mit „Dschinns“ nach dem gleichnamigen, zweiten Roman von taz-Redakteurin Fatma Aydemir gelang es dem Haus, die Seelen der Anhänger*innen zu streicheln. Tränen kullerten über Publikumswangen im letzten Drittel der Familiensaga, minutenlang wurden Ensemble, Regieteam und Autorin mit Standing Ovations gefeiert.

„Dschinns“ ist ein Abend, der vom jahrzehntelangen Ringen der Arbeitsmigrant*innen und ihrer Kinder erzählt. Hüseyin schuftete und träumte davon, seinen Ruhestand in Istanbul verbringen, wo er sich vom Ersparten eine Wohnung gekauft und eingerichtet hat. Kurz vor seinem Ziel, dem „kalten Deutschland“ endlich den Rücken zu kehren, stirbt er an einer Herzattacke. Die Witwe und fünf Kinder treffen sich am Grab, in Rückblenden erfahren wir von sehr unterschiedlichen Biographien und Problemlagen.

Schon der Roman-Vorlage, die mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet wurde und im vergangenen Herbst auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, wurde von einigen Rezensent*innen vorgeworfen, dass die Autorin zu viel auf einmal hineinpackte. Von Racial Profiling und Diskriminierung über Homo- und Transfeindlichkeit bis zum Konflikt zwischen den Kurden und der türkischen Regierung reiht der Abend in kleinen Miniaturen Problem an Problem und Reizthema an Reizthema, bis es zur großen, finalen Mutter-Tochter-Konfrontation kommt.

Erpulat versucht sein Bestes, er lockert den Abend erstens durch kleine Comedy-Nummern auf, zu denen Ensemble-Neumitglied Doğa Gürer und Aysima Ergün manche Szenen ausbauen dürfen. Zweitens hat er zusammen mit Sofia Pintzou einige schöne Choreographien gestaltet, z.B. ganz zu Beginn, als das Ensemble ganz in weiß den Tod des Vaters symbolisch nachempfindet. Drittens werden die Miniaturen häufig durch türkische Songs (mit deutschen Übertiteln) von Anthony Hüseyin, nonbinäre*r Songwriter*in, unterbrochen, aus denen sehr viel Welt- und Herzschmerz spricht. Diese Mixtur war offensichtlich ein Volltreffer bei großen Teilen der Stammgemeinde.

Ohne Kenntnis des Romans bleibt das Nebeneinander der vielen Handlungs- und Programmstränge herausfordernd. Der Versuch, all die Themen, die dem Gorki Team unter den Nägeln brennen, in weniger als zweieinhalb Stunden unterzubringen, hinterlässt auch nach dem Theaterbesuch den Eindruck, dass in diese Familiensaga zu viel auf einmal hineingepackt wurde und der Stoff eher die Erzählweise einer Netflix-Serie oder des zum Theatertreffen eingeladenen „Das Vermächtnis“-Marathons erfordern würde.

Überraschend wurde „Dschinns“ mit dem Friedrich Luft-Preis ausgezeichnet, den Deutschlandfunk und Berliner Morgenpost jährlich an eine Inszenierung aus Berlin oder Potsdam vergeben.

Bild: Ute Langkafel MAIFOTO

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert