So ähnlich wird der Dialog zwischen Seren Kara, Co-Intendantin des Schauspiel Essen, und der Autorin Fatma Aydemir wohl tatsächlich verlaufen sein: die Theaterleiterin wünschte sich für den Start am neuen Haus eine Klassiker-Überschreibung von Aydemir, deren Romane „Ellbogen“ und „Dschinns“ sie bereits in Mannheim inszeniert hat und die beide auch vom Gorki Theater adaptiert wurden. Silvia Weiskopf und Beritan Balci spielen die Auseinandersetzung in ihrem „Vorspiel auf dem Theater“ frei nach Goethe nach. Mehrere Vorschläge der Intendantin („Kabale und Liebe“, „Maria Stuart“ oder „meinetwegen die Nibelungen“) lehnt die Autorin ab. Der „Faust“ würde sie stattdessen reizen, einen deutscheren Stoff gebe es gar nicht. Der Klassiker sei doch so misogyn und abgedroschen, seufzt die Intendantin und spricht damit sicher vielen Theaterbesuchern aus der Seele.
Schließlich einigten sich die beiden doch auf eine „Doktormutter Faust“-Überschreibung, die am 9. September 2023 die Intendanz von Selen Kara/Christina Zintl in Essen eröffnete. Aydemir nimmt eine kleine Prise bekannter Original-Zitate und baut daraus eine Neufassung um die Gender Studies-Professorin Margarethe Faust (Bettina Engelhardt), die der Uni-Leitung zu feministisch und aktivistisch ist und deshalb vor dem Karriere-Aus steht. Getreu dem Original schließt sie mit Mephisto (Nicolas Fethi Türksever in betont genderfluidem Look) einen Pakt: der schwule Absolvent Karim (Eren Kavukoğlu) hat ihr Interesse geweckt. Er sucht eine Doktormutter, sie sehnt sich nach einer Affäre und nutzt das durch Karims prekären Aufenthaltsstatus zusätzlich verschärfte Machtgefälle aus.
Aydemirs Text ist zwar mit vielen aktuellen Diskursthemen von Abtreibung bis #metoo überfrachtet und erhebt an manchen Stellen den Zeigefinger etwas zu sehr. Insgesamt ist das Experiment einer Klassiker-Überschreibung erstaunlich gut gelungen. Im Zentrum des Abends stehen die Grauzonen im Verhältnis der Hauptfiguren.
Ein Problem des Abends ist, dass die Versuchsanordnung aus Klassiker-Fragmenten, Theorie-Diskursen und Alltagssprache sehr textlastig ist. Selen Karas Umsetzung auf Lydia Merkels Drehbühne bleibt recht statisch.
„Doktormutter Faust“ hatte am 9. September 2023 am Schauspiel Essen Premiere und lief am 19. April zur Eröffnung des Radikal jung-Festivals am Münchner Volkstheater. Kurz danach wird „Doktormutter Faust“ auch am 8. Juni 2024 bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin gastieren.
Bild: Birgit Hupfeld