Als pantomimische Groteske hinter Masken beginnt die neue Arbeit „Nôt“ der kapverdischen Choreographin Marlene Monteiro Freitas. Eine Performerin tut so, als ob sie in ihren Nachttopf kacken würde und krabbelt anschließend durch die engen Sessel-Reihen im Haus der Berliner Festspiele. Einige Unglückliche bekommen den leeren Topf unter ihre gerümpften Nasen gehalten. Reichlich albern beginnt diese anderthalbstündige Tour in die Nacht.
Diese Albernheiten waren stets eine Facette in den Arbeiten der Choreographin und dominierten ihr letztes Tanz im August-Gastspiel 2023 „MAL – Embriaguez Divina“ in der Volksbühne. Die minutenlange Klatsch-Parodie eines bildungsbürgerlichen Publikums wird ganz am Anfang kurz zitiert.
Das ist aber nur eine der Facetten in der schillernden Monteiro Freitas-Welt. Der lange Mittelteil geht ganz anders weiter: in schier endlosen Längen werkelt das Ensemble vor dem Stahlgerüst herum. Die ganze Breite der Bühne wird bespielt, zu redundant-atonalen Klängen sind die Performer*innen z.B. damit beschäftigt, die Betten frisch zu beziehen.
Bild: Christophe Raynaud de Lage
Dieser langatmig ausufernde, inhaltlich allzu egale Mittelteil wurde von der FAZ schon bei der Avignon-Eröffnungspremiere als „Zumutung“ beschimpft, rbb-Tanz-Experte Frank Schmid legte nach, wie unausgegoren die Choreographie sei. Kontinuierlich schwindet das Publikum, kleinere Gruppen zwängen sich Richtung Ausgang. Die angekündigten Motive aus „1001 Nacht“ sind nur in wenigen Spurenelementen zu erkennen, z.B. in einer Szene, in der das Durchschneiden von Kehlen angedeutet wird.
Doch Marlene Monteiro Freitas ist immer für eine Überraschung gut. Mit Vollgas legt sie sich in die Schlusskurve und lässt die Bühne noch mal so vor Energie vibrieren, wie ich es seit ihrem begeisternden „Bacchae – Prelude to a Purge“, mit dem sie 2017 im HAU ein Ausrufezeichen setzte, in ihren letzten Arbeiten vermisst habe. Hier wird die notwendige Power spürbar, die es braucht, um die Volksbühne zu bespielen. Denn Matthias Lilienthal holte Marlene Monteiro Freitas neben Florentina Holzinger in das Artistic Advisory Board für seine 2026 beginnende Volksbühnen-Intendanz.
Bild: Fabian Hammerl
Wenn die beiden Choreographinnen richtig loslegen, könnte die Volksbühne nach dem Tod von René Pollesch bald wieder durchstarten. Zu hoffen ist, dass sich Freitas auf ihre Stärken besinnt, die im letzten Drittel aufblitzen. Falls sie bei den Facetten der ersten beiden Teile dieses „Nôt“-Abends steckenbleibt, drohen quälende Durststrecken am Rosa Luxemburg-Platz. Hoffen wir auf das Beste!
Holzinger und Monteiro Freitas haben bei allen Unterschieden eines gemeinsam: Das Label „Tanz“ beschreibt die Komplexität ihrer Arbeiten unzureichen. Am ehesten passt für „Nôt“ aus meiner Sicht Musiktheater-Performance. In jedem Fall war es ein denkwürdiger Abend: Wann erlebt man schon eine Arbeit, die so polarisiert, mit zahlreichen Walk-Outs und Standing ovations von einem großen Teil, die durchgehalten haben?
Vorschaubild: Fabian Hammerl