Tanz im August 2023

Ein glückliches Händchen bewies der neue „Tanz im August“-Festival-Kurator Ricardo Carmona mit dem Eröffnungsstück seiner ersten Ausgabe: „Carcaça“ (zu Deutsch „Wrack“ oder „Gerippe“) ist eine mitreißende Produktion von Marco da Silva Ferreira, die am Teatro Municipal do Porto entstand.

Die Vorzeichen waren schlecht: ein Tänzer musste mit Knieverletzung passen und kurz vor dem ersten Gastspiel erkrankte auch noch der Choreograph, der selbst mittanzen sollte. Die Compagnie bot auch zu acht eine tolle Show, der gar nicht anzumerken war, dass kurzfristig einiges umgearbeitet werden musste.

Das Spannende an „Carcaça“ ist, wie hier sehr unterschiedliche Stile ineinanderfließen: portugiesische Folklore-Tänze und die Ballroom-Voguing-Urban Dance aus den USA treffen mit großer Selbstverständlichkeit aufeinander. Auf durchgehend hohem Energielevel performen die schillernden Tänzer*innen ihre Choreographien, wechseln mühelos die Stile und überraschen kurz vor Schluss mit einem von der portugiesischen Nelkenrevolution 1974 inspirierten politischen Manifest.

Mit großem Jubel wurde das Ensemble nicht nur nach der Premiere, sondern auch der dritten Vorstellung gewürdigt. Wenige Meter weiter im HAU 2 luden sechs Transaktivistinnen aus Abidjan in „Prophétique (on est déjà né.es)“ zu einer queeren Empowerment-Party. Während das Publikum noch seine Plätze suchte, ließ das Ensemble zu Voguing und Coupé-décalé bereits die Hüften kreisen, Acauã El Bandide Shereya warf sich ohne Vorwarnung auch bereits einem Zuschauer in der ersten Reihe an den Hals.

Bild: Werner Strouven

Als selbstbewusste Feier ihrer Queerness funktioniert die Show sehr gut. Dass sie bereits da sind und sich nicht länger an den Rand drängen lassen, macht nicht nur der Titei-Zusatz in Klammern deutlich, sondern ist auch die eindeutige Message des 70minütigen Abends. Das Ensemble, das Nadia Beugré im Nachtleben der Côte d’Ivoire castete und nach der Kunstenfestival-Premiere nun erstmals in Deutschland präsentierte, schillert in den buntesten Farben und wirft sich in laszive Personen. Die Publikumsresonanz schien am Ende geteilt: viel Jubel für das queere Statement auch hier, aber vor allem ältere Zuschauerinnen blickten etwas ratlos, in welche Show sie hier geraten sind, da vor allem Acauã El Bandide Shereya fast ständig an sich herumspielte und an diesem ersten warmen Sommerabend nach den Regen-Wochen anschließend als laszive Diva auch auf dem Vorplatz Hof hielt.

Eine zweite Ebene fehlt dieser Show, die ganz vom Charisma der Protagonistinnen lebt und nummernrevue-artig um wenige Leitmotive, z.B. Haarextensions, kreiste. Ein naheliegendes Motiv, da viele der Tänzerinnen tagsüber im Friseursalon arbeiten. Andere Einfälle wie das Hundegebell und die Dogtraining-Szenen aus der Fetisch-Szene wirkten weniger schlüssig eingebunden.

Wesentlich ruhiger lassen es Trajal Harrell und sein Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble bei ihrem The Romeo-Gastspiel angehen. Auch sie stehen großteils schon auf der Bühne, während sich die Zuschauerreihen langsam füllen. Die Tänzerinnen und Tänzer plaudern entspannt, winken ins Publikum oder halten Small-Talk mit alten Bekannten am Bühnenrand. Das Saallicht bleibt auch noch an, während sie sich nacheinander mit einer charakteristischen Eigenschaft vorstellen: der eine schielt, der nächste berichtet von seinen sexuellen Vorlieben. In der kurzen Umbaupause ziehen sie sich zurück, während kleine Flugblätter mit Hintergrundinfos zur Choreographie durch die Reihen gegeben werden: „Stellen Sie sich diesen Tanz vor, den Menschen aller Herkünfte, Geschlechter und Generationen, aller Temperamente und Stimmungen tanzen, wenn sie ihren Tragödien ins Auge blicken und nur noch tanzen.“ Dementsprechend divers ist das Ensemble: neben durchtrainierten, normschönen Modellathleten erleben wir auch übergewichtige Körper.

Von Pink Floyd über Opernarien bis zu sanfter Klaviermusik reicht der Soundtrack für die Bewegungen des Ensembles: Natürlich bietet Harrell die Markenzeichen seines Stils, das elegante Voguing, die Kostüme werden fast im Minutentakt gewechselt und originell kombiniert, erinnern mal an antike Togen, oft sind sie KitKatClub-kompatible, hedonistisch-laszive Kreationen.

Bild: Orpheas Emirzas

Der große Unterschied zu „The Köln Concert“, dem Festival-Highlight des vergangenen Jahres, ist, dass der neue Abend nicht ganz so stringent wirkt. Die Musik und die pandemischen Abstandsregeln gaben damals einen strengen Rahmen vor, den Harrell und sein Ensemble meisterhaft nutzten. „The Romeo“ ist wesentlich freier, statt melancholischer Soli gibt es viele Gruppenszenen, im Mittelteil ballt sich das Ensemble mehrfach zu Trauben, auf dem Catwalk befummeln sie gegenseitig die neuesten Roben, die sie präsentieren. Statt Schmerz und Unsicherheit, die das Stück in der kurzen Zeit zwischen den Corona-Lockdowns prägten, pendelt die neue Arbeit zwischen ironischen kleinen Einlagen und einer schwebenden Traumverlorenheit.

„The Romeo“ stellt die typischen Charakteristika des Harrell-Stils aus und läutet bereits seinen Abschied als Zürcher Hausregisseur ein. Nach dem angekündigten Aus der Intendanz von Nicolas Stemann/Benjamin von Blomberg wird er kommende Spielzeit wie auch seine sieben Kolleginnen und Kollegen eine letzte Premiere erarbeiten, bevor Ulrich Khuon für eine Interimsspielzeit übernimmt und das Haus eine neue Leitung bekommen wird.

Ein Highlight zur Festival-Halbzeit ist Anne Teresa de Keersmaekers neue Kreation EXIT ABOVE after the tempest, die im Mai beim Kunstenfestivaldesarts Premiere hatte und sowohl bei den Wiener Festwochen als auch in Avignon gefeiert werde.

Bei der belgischen Starchoreographin denkt das Fachpublikum an formstrenge Exerzitien, wie sie ihre Compagnie Rosas zuletzt mit den Sechs Brandenburgischen Konzerten, die noch von Chris Dercon für die Volksbühne in Auftrag gegeben wurden, mustergültig präsentierte. Natürlich marschieren und schreiten die 12 Tänzerinnen und Tänzer auch diesmal, doch die Formation wird oft ironisch mit kleinen Comedy-Einlagen gebrochen und durch viele Soli aufgelöst.

Ungewohnt variantenreich trumpft de Keersmaeker in ihrer jüngsten Arbeit auf. Den Ton gibt gleich zu Beginn der junge Franzose Solal Mariotte vor, der mit seinen blonden Locken den „Engel der Vernunft“ aus Walter Benjamins Schrift „Über den Begriff der Geschichte“ verkörpert, der als Einleitungstext firmiert. Ihm ist deutlich anzumerken, dass er vom Hiphop und Breakdance kommt. Bei seinem Rosas-Debüt wirbelt er die gewohnte Choreographie gehörig durcheinander. Man kann ihn auch als Luftgeist „Ariel“ aus dem „Sturm“ von Shakespeare interpretieren, auf dieses Spätwerk nimmt schon der Titel des Abends Bezug, weitere Anspielungen zieheh sich durch den 90minütigen Abend.

Bild: Anne van Aerschot

Die zweite herausragende Protagonistin ist Meskerem Mees, eine junge Songwriterin aus Gent, die auf Folk spezialisiert ist. Sie singt ihre von Robert Johnson inspirierten Kompositionen und wird live vom Gitarristen Carlos Garbin begleitet.

Schillernder und freizügiger werden die Kostüme des Ensembles, das sich zu den Pop- und Folksongs in Partystimmung tanzt, immer mittendrin die beeindruckende Stimme von Meskerem Mees, die zwischen Rap und Blues mühelos hinundherwechselt und das Bühnengeschehen bestimmt. Die bei Keersmaeker üblichen strengen Formen sind am Ende einer mitreißenden Leichtigkeit gewichen.

Zu den kleineren Arbeiten im Schatten der Tanz-Promis zählt die marokkanisch-französische Produktion Hmdacha aus dem Jahr 2021, die im Radialsystem gastierte. In tranceartig-kreisenden Bewegungen wirbeln Taoufiq Izeddiou und seine acht am Ende sichtlich erschöpften Mitstreiter über die Bühne. Diese Choreographie ist eine Entdeckungsreise in Sufi-Rituale, die mit modernem Urban Dance kontrastiert und gebrochen werden. Dennoch wirken die Bewegungsmuster dieser 70 Minuten recht redundant.

Das erwartet große Spektakel boten (LA) HORDE/ Ballet national de Marseille mit ihrer neuen Produktion Age of Content, die Anfang August beim Kampnagel Sommerfestival Premiere feierte. Beeindruckend ist gleich das erste Bild: ein bis auf das Skelett ausgeweidetes Auto wird von einer Gruppe vermummter Gestalten in Ganzkörper-Overalls bestiegen. Die folgende Szene wird zum minutenlangen Kampf Mensch gegen Maschine, das ferngesteuerte Auto versucht, die Menschen abzuwerfen, neigt sich in alle Richtungen, die Gruppe klammert sich fest, sucht Halt auf dem schwankenden Wrack.

Die Stärke des Trios Marine Brutti, Jonathan Debrouwer, Arthur Harel, die sich hinter dem Label „(LA) HORDE“ verbergen, ist es, kleine Tableaus zu entwerfen. Knapp 90 Minuten lang erleben wir einen bunten Reigen aus Stuntshows, angedeutetem Sex des ganzen Ensembles oder eine ausgelassene Party zu Minimal Music von Philipp Glass.

Age of Content spiegelt die Welt von YouTube und TikTok: narzisstische Selbstdarstellung in gekonnten Choreographien auf der Jagd nach Followers und Likes. Das ist handwerklich gekonnt und schön anzuschauen, dem Panorama aus vielen Einzelszenen fehlt aber der große dramaturgische Bogen.

Bild: Blondine Soulage

An dem opulenten Spektakel hoben die Kritiken in Hamburg und Berlin besonders zwei Aspekte hervor: sichtlich beeindruckt waren die Feuilletons von der Tatsache, dass (LA) HORDE bereits mit Superstar Madonna für Musikvideos zusammenarbeitete. Hervorgehoben wurde auch ein „ziemlich sweeter Boy“ (Berliner Zeitung), der die Jeans so tiefsitzend trug, dass seine Rundungen bei den mechanisch ruckelnden, Avatar-artigen Bewegungen sehr zur Geltung kamen.

Das Kontrastprogramm bot anschließend Cherish Menzo im HAU 2: Gemeinsam mit ihrem Partner erzählt sie in ebenso düsteren wie langatmigen 90 Minuten vom Schmerz schwarzer Menschen. Mehr Performance als Tanz ist dieses Gastspiel, das bereits seit 2022 über die Festivals tourt.

Bild: Bas de Brouwer

D̶A̶R̶K̶MATTER ist durchzogen von kleinen Rap/Spoken Word-Einlagen aus eigener Feder sowie von Lyrik schwarzer Dichter oder Songs von Underground-Bands erzählen sie in langsamen Bewegungen vom Schicksal ihrer Community.

Mit einer Clownerie endet das Festival: Marlene Monteiro Freitas grimassieren sich pantomimisch durch eine fast zweistündige Nummernrevue. MAL – Embriaguez Divina sollte eigentlich zum Finale von Matthias Lilienthals Münchner Kammerspiele-Intendanz herauskommen, coronabedingt fand die Premiere erst einige Monate später zwischen den Lockdowns beim Kampnagel Sommerfestival 2020 statt.

Der Abend ist eine lose Nummernrevue, er beginnt mit einem Volleyball-Match des Ensembles im Hintergrund, während sich vorne ein Soldat mit Maschinengewehr postiert, der den martialischen Auftritt von Polizeistaaten karikiert. Die restlichen Szenen spielen meist auf einem tribünenartigen Aufbau im Zentrum statt, dort machen sich die Spieler*innen in einer minutenlangen Parodie über das klassische Ballett-Publikum lustig und applaudieren verzückt einer Schwanensee-Variation.

Bild: Jose Caldeira

Diese komödiantische Miniatur bekam auch als einzige Szenen-Applaus. Ein weiteres Highlight waren die kurzen Momente, in denen die kapverdische Choreographin und ihr Ensemble an ihren „Bacchae – Prelude to a purge“-Hit von 2017 anknüpft. So mitreißend und dionysisch-überschäumend wird der neue Abend leider nur selten. Mariana Tembe wirbelt auf dem höchsten Punkt der Tribüne über die Spielfläche und lässt ihr Handicap fehlender Beine vergessen.

Doch in den knapp zwei Stunden gibt es auch einige Längen, wenn sich das Ensemble mal wieder mit Papierkronen, Phantasiesprachen-Gebrabbel und Grimassen verzettelt wie schon beim Freitas-Solo idiota, das bei „Performing Exiles“ im Juni gastierte. Als es am Ende langsam ausfranste, widmete sich die Zuschauerin in der Reihe vor mir lieber der Aktualisierung ihres Instagram-Profils.

Rückblickend war die „Tanz im August“-Ausgabe 2023 eine der stärksten der vergangenen Jahre mit Stars wie Anne Teresa de Keersmaeker auf der Höhe ihrer Meisterschaft, mit bekannten Namen wie Trajal Harrell oder Marlene Monteiro Freitas, die nach Berlin zurückkehrten, und Neuentdeckungen wie (LA) Horde oder den ivorischen Transaktivistinnen. Der neue Festival-Kurator Ricardo Carmona stellte ein Programm zusammen, das Lebensfreude und Spaß am Experimentieren und der Bewegung in den Mittelpunkt rückte und eine sehr breite Palette an Stilen bereithielt.

Vorschaubild: José Caldeira

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert