Düstere Stimmung herrscht in der Theaterwelt: mit bangen Blicken wachsen die Sorgen vor tiefen Einschnitten in den Etats der Staatsministerin für Kultur und Medien und des Berliner Kultursenators. Künstlerisch fällt auf, dass sich kaum neue Namen durchsetzen, stattdessen gewohnte Ästhetiken recyclet werden.
Umso wichtiger ist es, dass Florentina Holzinger in regelmäßigen Abständen mit opulenten Shows für einen Energieschub sorgt und virtuos mit den Grenzen der Genres spielt. „Sancta“ ist eine unerwartete, aber konsequente Weiterentwicklung. Nach dem Blockbuster-Kino, das „Ophelia´s got talent“ inspirierte, bedient sich Holzinger diesmal in den Nischen des Opern-Repertoires. Sie grub mit „Sancta“ von Paul Hindemith einen kurzen Einakter aus, der 1920 für einen Skandal sorgte, da die sexuelle Selbstbestimmung einer katholischen Nonne die Gemüter erhitzte.
Ende Mai 2024 hatte diese teure Koproduktion ihre Premiere am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, zog über die Wiener Festwochen an die Staatsoper Stuttgart, schlug dort hohe Wellen, da einige im Publikum die Selbstverletzung, die in keiner Holzinger-Show fehlen darf, nicht ertrugen und religiöse Würdenträger Blasphemie anprangerten.
Auf dem Rosa Luxemburg-Platz in Berlin herrschte zwar auch viel Unruhe vor dem „Sancta“-Heimspiel an der Volksbühne. Dies lag aber vor allem an den Verzweifelten, die noch auf ein Ticket zum stolzen Preis von 80 € hofften. Überraschend konventionell und nah am Hindemith-Original bringen Holzinger und ihre musikalische Leiterin Marit Strindlund den Einakter vorne an der Rampe hinter sich. Typisch Holzinger und noch expliziter queer-feministisch als von ihr bisher gewohnt begleiten nackte Performerinnen diesen Einakter mit eindeutigen Posen des Sich Aneinander Reibens, Leckens, Küssens.
Nach dieser ersten halben Stunde nimmt dann die eigentliche Holzinger-Show Fahrt auf. Im Nonnenkostüm skaten die FLINTA-Performerinnen durch die Halfpipe, als erste lesbische Päpstin wird Saioa Alvarez Ruiz von einem Roboter-Arm in die Luft gehoben, Annina Machaz hat einen Stand up-Comedy-Auftritt als zu spät auf die Bühne hetzender Jesus auf Schwyzerdütsch und zum Letzten Abendmahl lässt sich eine Holzinger-Jüngerin ein Stück Fleisch herausschneiden, das sie an die anderen verteilt.
Das hört sich nach Nummern-Revue an, folgt aber einem klaren roten Faden. Die Misogynie und Brutalität der katholisch-römischen Kirchengeschichte sind die Folie, von der sich Holzinger in ihrem „Sancta“-Hochamt abhebt. Den Hass, dem die Ausgegrenzten jahrhundertelang ausgesetzt waren, kehren die Performerinnen in den Selbstverletzungs-Aktionen gegen sich.
Wie es sich für jede Messe gehört, kreist die Liturgie nicht nur um sich selbst, sondern stiftet eine Gemeinschaft. Das Publikum ist aufgerufen, öffentlich die Sünden zu beichten. Immer wieder stehen weitere Leute auf, so dass die Szene viel länger dauert als in Stuttgart, wie Holzinger mit einem Seitenhieb ätzt. Noch an einer weiteren Stelle spielte sie auf den Medienrummel um das vermeintliche Skandalstück.
Doch es könnte kaum ein friedlicheres Schlussbild geben, als den gemeinsamen Chor aus Performerinnen und Publikum zur Rocky Horror Show-Hymne „Don´t dream it, be it“.
Alle, die gestern und heute nicht bei diesem Hochamt dabei sein durften, können noch davon träumen, dass die Theatertreffen-Jury diesen Abend als das einstuft, was er ist: eine bemerkenswerte Weiterentwicklung einer der spannendsten Künstlerinnen der Gegenwart.
Bilder: © Nicole Marianna Wytyczak