Berlin war schon lange vor dem Beginn der Ära Dercon/Charmatz, die an der Volksbühne einen Schwerpunkt auf Tanz legen, mit modernen Choreographien und Performances verwöhnt. Es ist also nicht leicht für eine junge Künstlerin, hier noch neue Akzente zu setzen und für Überraschungen zu sorgen.
Marlene Monteiro Freitas, die auf den Kapverdischen Inseln geboren ist und seit 2012 mit kleineren Arbeiten regelmäßig am HAU gastiert, setzt mit ihrem bisher größten Projekt „Bacchae – Prelude to a Purge“ ein Ausrufezeichen. Ihr Stil ist ein spannender Mix, der sich aus ganz unterschiedlichen Quellen speist: Zunächst fällt die mitreißende Musik ihrer Compagnie auf. Stampfend und überschäumend zelebrieren sie das dionysische Prinzip, das in der antiken griechischen Mythologie der rauschhafte Gegenpol zum vernunftgeleiteten Appolinischen war. Dies ist die einzig offenkundige Anleihe aus der „Bacchen“-Tragödie des Euripides, deren Handlungsgerüst und Figuren in dieser überbordenden Performance, anders als der Titel vermuten ließe, ansonsten keine Rolle spielen.
Die zweite Quelle, aus der sich dieser Abend speist, sind klassische Clownsnummern. Die fünf Trompeter sind fast noch stärker geschminkt als Monteiro Freitas und die sieben anderen Tänzerinnen und Tänzer. Augen und Münder sind durch dicke Farbschichten überbetont und werden vor allem von den drei Frauen oft voller Entsetzen weit aufgerissen. Auch die Bewegungen greifen tief auf den Fundus des Slapsticks zurück. Das Interessante des Abends ist, dass aus der Kombination dieser z.T. sehr deutlichen Anleihen bei der berühmten Schreibmaschinen-Nummer des im August verstorbenen Jerry Lewis oder bei Charlie Chaplin mit karibischer, portugiesichen und brasilianischen Musikstilen und klassischer griechischer Mythologie eine eigenständige neue Mischung entsteht, die ein bunter Farbtupfer in der Tanzszene ist.
Vor allem in der zweiten Hälfte schlägt die mehr als zweistündige schweißtreibende „Bacchae“-Performance den einen oder anderen Haken zu viel. Man hat das Gefühl, dass die Performer bei der Entwicklung des Stücks ihrer Kreativität ungezügelt ihren Lauf ließen und sich einfach überraschen ließen, wohin sie ihre Energie treibt. Minutenlang wird nun z.B. das Schwarz-Weiß-Video einer Geburtsszene in Asien eingespielt.
Eine ebenso schräge wie furiose Interpretation von Ravels „Bolero“, in der – wie zu vor schon Drumsticks – die Notenständer als an diesem Abend leitmotivisch allgegenwärtige Phallus-Symbole eingesetzt werden, ist das würdige Finale. Eine Woche nach der Premiere beim Steirischen Herbst in Graz ließ die internationale „Bacchae“-Koproduktion das HAU 1 bei vorerst leider nur zwei Vorstellungen vibrieren. Mit ihrer Power hätten sie keine Probleme, auch wesentlich größere Bühnen wie das Haus der Berliner Festspiele oder die Volksbühne zu bespielen und die ganze Wucht ihrer Performance zur Geltung zu bringen.
Bilder: Filipe Ferreira