Wut

Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek wird bald 70. Aus diesem Anlass wurde an diesem Wochenende zunächst aus ihrem Drama „Die Schutzbefohlenen“ gelesen und anschließend ihr aktuellster Text „Wut“ aufgeführt.

Beide Stücke haben gemeinsam, dass Jelinek ihre Textflächen bereits veröffentlichte, bevor sich die Brisanz ihrer Stoffe so weit verschärfte, dass das Thema ganz oben auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda ankam.

Ihre „Schutzbefohlenen“ wurden bereits zum Berliner Theatertreffen im Mai 2015 eingeladen, als noch niemand ahnte, wie sehr sich die Lage der Flüchtlinge auf der Balkanroute im Spätsommer und Herbst zuspitzen würde. Auch ihr Werk „Wut“, das Stimmen der Attentäter auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo, von Pegida-Marschierern und Griechenland-Bashern zu einem lauten Stimmengewirr von Schreihälsen verwebt, entstand bereits Anfang des Jahres 2016, bevor die Lage weiter eskalierte: weitere Anschläge in Paris und Brüssel, zweistellige Wahlergebnisse der „Alternative für Deutschland“, erste islamistische Anschläge in Deutschland und Pöbeleien bei den Feierlichkeiten zum Tag der Einheit. Was Jelinek bereits vor knapp zwei Jahren konstatierte, ist jetzt unübersehbar: eine Krise des gesellschaftlichen Dialogs, stattdessen Wut, Hass und Shitstorms.

Der entscheidende Unterschied zwischen Nicolas Stemanns Uraufführungen von „Die Schutzbefohlenen“ und „Wut“ ist: im ersten Fall gelang ihm ein mitreißender, sehr kompakter Theaterabend, der den Finger in die Wunden legt, viele komische und entlarvende Momente hat. „Wut“ zieht sich dagegen – je nach Improvisationslust und Tagesform der Spielerinnen und Spieler – in der Münchner Kammer 1 an der Maximilianstraße mindestens 3,5 Stunden in die Länge, bekommt aber seinen Stoff nicht recht zu fassen und surft nur an der Oberfläche.

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Manchmal ist das noch komisch, wenn sich z.B. der gekreuzigte Jesus, Buddha und das Spaghettimonster zu einer gemütlichen Sofa-Runde versammeln, die durch das plötzliche Erscheinen von Mohammed aufgemischt wird. Zu oft ist es aber nur banal oder albern, z.B. wenn Regisseur Nicolas Stemann, der selbst mit auf der Bühne steht, in einer aktuellen Presseschau über die Bilder zum 25. Todestag von Roy Black spricht und die Badewannen-Baby-Fotos von Lars Eidinger, Senta Berger und Co. aus dem ZEIT-Magazin auf die Leinwand projiziert.

Zu selten entstehen dichte Szenen, wie z.B. bei Annette Paulmanns Monolog über die AfD.

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Vor allem tut es dem Abend nicht gut, dass nach knapp zwei Stunden statt einer Pause die Saaltüren geöffnet werden. Einige nutzen die Möglichkeit zum Absprung und für eine alternative Abendgestaltung. Noch mehr Unruhe entsteht aber durch das Kommen und Gehen derer, die sich im Foyer Getränke holen, laute Gespräche führen und sich wieder zu ihrem Platz durchkämpfen.

Sehr lesenswert ist das Programmheft: die Schauspielerinnen interviewten Elfriede Jelinek kurz vor der Uraufführung. Regisseur Nicolas Stemann äußert sich im Gespräch mit dem Dramaturgen Benjamin von Blomberg wesentlich differenzierter und nachdenklicher als während des Stücks. Als Bonus gibt es noch einen Abdruck aus der aktualisierten Fassung von „Jihad vs. McWorld“ des Politikwissenschaftlers und Clinton-Beraters Benjamin Barber.

Uraufführung von „Wut“ war am 16. April 2016 in den Münchner Kammerspielen. Weitere Informationen und Termine

Bilder: Thomas Aurin

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