Dieses Ungetüm von einer Theaterhalle muss man erst mal bespielen können: Regisseur Stefan Pucher nutzt den Schiffbau in seiner ganzen Breite.
Die Zuschauer, die auf bis zu 6 m hohen Gerüsten platziert sind, erleben eine „Antigone“ im XXL-Format. Wie von Stefan Pucher gewohnt mit viel Live-Musik und Video-Einsatz (Live-Kamera, Einspieler, gerne auch beides gleichzeitig mit Überblendungen).
Wie wir es ebenfalls von Pucher gewohnt sind, ließ er sich die griechische Tragödie des Sophokles neu übersetzen: Das bewährte Kieler Duo Feridun Zaimoglu/Günter Senkel, das mit „Schwarze Jungfrauen“ bekannt wurde, belässt alle wichtigen Figuren und ihre zentralen Konflikte. Poetische Passsagen mixen sie mit derben, teilweise sehr vulgären Sprüchen: auch dies ganz so, wie es zu erwarten war.
Die negative Überraschung ist, wie unentschieden und ohne klaren Zugriff sowohl die Textvorlage als auch die Inszenierung mit dem klassischen Stoff aus der Antike umgehen. Im Programmheft ist nachzulesen, dass das durchaus so gewollt war: Zaimoglu/Senkel wollten ihren Zuschauern viel Raum für Assoziationen lassen.
Diese Schwäche der Inszenierung zeigt sich vor allem bei den beiden Hauptfiguren: Antigone wirkt in manchen Momenten wie eine ernste junge Frau, die für ihre Überzeugungen in den Tod geht. In anderen Passagen wirkt Elisa Plüss als Antigone wie ein narzisstisches Glitzer-Girlie. Ihr Gegenspieler Kreon sagt ihr dass auch ganz offen ins Gesicht. Er bezeichnet sie als „Mädchen, so selbstverliebt und eitel, dass sie sich noch kurz vor ihrem Tod um ihr Aussehen sorgt.“ Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann klärt uns im Programmheft auf, dass sich Zaimoglu/Senkel von Slavoj Žižek zu dieser Lesart anregen ließen.
Diesen beiden verschwommenen Hauptfiguren sind noch einige Abziehbilder an die Seite gestellt: Antigones Schwester Ismene ist bei Julia Kreusch eine Nymphomanin, die für jeden willig die Beine breit macht. Aus dem Chor wird eine opportunistische „Lügenpresse“, die mit schrillen Schlagzeilen und Kraftausdrücken um sich wirft. Sie sind in Tarn-Uniformen gesteckt. Auf ihren Brustpanzern stehen in großen Lettern die Begriffe „Press“ und „Corpse“ (Leiche): eine gallige Abrechnung mit der Presselandschaft, die in unserer Realität zum Glück viel differenzierter und ziviler Auftritt als dieser gleichgeschaltete Kampftrupp.
Verhaltener Applaus nach einer Premiere, die eine zeitgenössische Deutung des „Antigone“-Stoffs versucht, sich dabei aber zwischen Merkel-Raute und Lügenpresse verheddert.
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