Ein interessantes Gedankenexperiment ist in den Münchner Kammerspielen zu erleben: der algerische Journalist Kamel Daoud machte sich in seinem Romandebüt „Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung“ daran, dem existentialistischen Schullektüre-Klassiker „Der Fremde“ von Albert Camus eine eigene Version des Stoffes entgegenzusetzen. Der namenlose Araber, der im Camus-Original von Meursault am Strand erschossen wird, bekommt bei Daoud erstmals einen Namen: Musa. Daoud kehrt die Perspektive um: während sich Camus auf den Täter konzentriert, erzählt die Roman-Um-, Neu- und Weiterschreibung des Algeriers von der Trauer der Mutter und des Bruders des Opfers.
Matthias Lilienthal lud den iranischen Regisseur Amir Reza Koohestani ein, zum Auftakt der zweiten Spielzeit als Intendant der Münchner Kammerspiele, den Roman „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ für die Bühne zu adaptieren. Kooheastani hat sich mit seiner Teheraner Mehr Theatre Group auf zahlreichen internationalen Festivals einen Namen gemacht und arbeitet für seine Inszenierung an der Münchner Maximilianstraße mit einer bunt zusammengewürfelten, internationalen Schauspielertruppe zusammen. Die Vielfalt ihrer Sprachen von Farsi bis Hochdeutsch mit Schweizer Färbung gehört zum Regiekonzept dieses auf Deutsch und Englisch übertitelten Abends.
Wie gelingt Koohestani die Romanadaption?
An der Herausforderung, einen Roman in eine bühnentaugliche, dramatische Form zu bringen, haben sich schon manche Regisseurinnen und Regisseure die Zähne ausgebissen. Wie viel dabei schief gehen, zeigte sich erst vor kurzem, als der begabte Österreicher Philipp Preuß im Studio der Schaubühne ratlos wirkte, wie er diesen klassischen Text „Der Fremde“ über eine antriebslose und gleichgültige Figur auf die Bühne bringen soll.
Koohestani setzt darauf, mit einem großen Arsenal an Figuren einen Sog zu entfalten, der das Publikum in den Abend hineinzieht. Im Zentrum stehen die Hinterbliebenen des Opfers Musa (Hassan Akkouch): seine Mutter (Mahin Sadri) und sein Bruder Harun, der von Schauspielern aus drei Generationen gespielt wird (Walter Hess, dem Bulgaren mit österreichischem Akzent Samouil Stoyanov und einem wechselnden Kinderdarsteller). Der dreifache Harun erinnert sich, wie ihn die Mutter aufstachelte, den Mord an seinem älteren Bruder Musa zu rächen und einen Franzosen zu erschießen: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Koohestani und seinem Ensemble gelingen einige starke Szenen und poetische Bilder. Als „multiperspektivisches Sprachpanorama“ ist der Abend angekündigt. Häufige Rückblenden, der Mix aus Ensemble-Szenen, die teilweise in ein fast schon babylonisches Sprachengewirr münden, und nachdenklichen, oft dezidierten religionskritischen Monologe, die dem algerischen Autor Daoud eine Fatwa einbrachten, bieten tatsächlich anregendes Gedankenfutter. Seine Sprunghaftigkeit wird dem Abend aber auch zum Verhängnis: ein wirklich überzeugender, packender und dichter Theaterabend, wie er Koohestani mit „Hearing“ gelang, glückt ihm diesmal nicht.
Dies liegt vor allem auch an der zu melodramatischen, aufgesetzt wirkenden Schlussszene, als eine unglückliche Liebesgeschichte zwischen Harun und Maryam (Maya Haddad) hinzugedichtet wird. Diese Sentimentalität störte schon einige Rezensenten an Daouds Romanvorlage, während die andere Hälfte der Kritiker über sein intelligentes Gedankenexperiment jubelte.
Bilder: Judith Buss