„Eternal Russia“ ist ein klug gebauter, gründlich recherchierter, sehr düsterer Parcours durch die russische und sowjetische Geschichte: Marina Davydova, Theaterhistorikerin, Chefredakteurin des Magazins „Teatr“ und Programmdirektorin mehrerer Festivals wie der Wiener Festwochen 2016, hat ihn gemeinsam mit Vera Martynov, der Künstlerischen Leiterin des Moskauer New Space Theatre of Nations, konzipiert.
Der Streifzug setzt bei den ersten, kläglich gescheiterten Versuchen ein, die absolutistische Zarenherrschaft in eine konstitutionelle Monarchie zu überführen. Mit diesem ersten Aufbegehren beginnt der Schauspieler Sergey Chonishvili seine Tour d‘ Horizon durch die reformerischen und sozialrevolutionären Bewegungen von Graf Speranski über die Anarchisten Bakunin und Kropotkin bis zur Oktoberrevolution. Als Sprachrohr der Revolutionäre gibt er seine Erklärungen per Video von der großen Leinwand an der Stirnseite eines Raums, den Davydova/Martynov als „Utopie 1“ bezeichnen. Der Salon ist ganz in revolutionäres Rot getaucht, an der Wand hängt avantgardistische, futuristische Kunst aus der kurzen Phase politischer und geistiger Freiräume zwischen Ende der Zarenherrschaft und Gleichschaltung der Sowjet-Gesellschaft durch die Bolschewiken.
Von dort geht es zurück in den großen Festsaal: Die alte Ordnung liegt in Trümmern, statt einer festlich gedeckten Tafel und serviler Bediensteter sind nur Scherben und Fetzen übrig. Es wird Zeit, dass jemand mit eisernem Besen kehrt, tönt es scheppernd durch den Lautsprecher. Die Zuschauergruppe wird kreuz und quer durch das Treppenhaus des HAU 3 geführt, bis wir im Raum „Utopie 2“ landen. Das kleine Zimmer ist ganz abgedunkelt und wird nur selten durch einen Suchscheinwerfer erhellt, der nach verdächtigen Bewegungen fahndet. Auf den Bildschirmen ist der Schauspieler Sergej Chonishvili nicht mehr zu sehen, sondern nur noch seine Stimme zu hören, mit denen er von den Opfern der stalinistischen Säuberungen und des Gulags berichtet.
Als wir in den Festsaal zurückkehren, wirkt das Bankett wieder wohl geordnet. Stabile Friedhofsruhe ist eingekehrt, avantgardistische Experimente von Malern wie Malewitsch oder Regisseuren wie Meyerhold sind nicht mehr erwünscht. Das einzige störende Element sind die Beine der Leiche, die unter dem Vorhang hervorlugen.
Der Raum „Utopie 3“ erzählt in einem witzigen Stummfilm von der Aktivistin, Schriftstellerin und Diplomatin Alexandra Kollontai, der das Festival „Utopische Realitäten“ gewidmet ist, und ihren Ideen der sexuellen Befreiung. Von dort geht es wieder in den Festsaal, wo Putin das Regiment übernommen hat. Gesetze wie sein Verbot der „Propaganda von Homosexualität“ (2012) zeigen, wie tief der Graben zwischen Kollontai Agenda und Putins Autokratie ist.
Die pessimistische Geschichtserzählung „Eternal Russia“ verdeutlicht die langen Kontinuitätslinien der Repression und der Niederschlagung zarter demokratischer Pflänzchen von den Zaren über Stalin bis Putin. Für das Berliner Publikum bleibt ein Notausgang. Aber welche Hoffnung gibt es für Russland?
„Eternal Russia“ war vom 12. bis 22. Januar 2017 im HAU 3 zu sehen.
Bilder: Dorothea Tuch