Medea. Stimmen

Medea: die Rasende, die Kindsmörderin, ein Monster. So ist die mythische Figur seit der klassischen Tragödie des Euripides im Theater-Kanon und in unserem kulturellen Gedächtnis verankert.

1996 unternahm Christa Wolf den Versuch, den Mythos umzudeuten. Ihr Roman „Medea. Stimmen“ ist ein vielschichtiges Werk, das als Collage aus mehreren Monologen ein ganz anderes „Medea“-Bild zeichnet, als wir es gewohnt sind. Wolfs „Medea“ ist eine Fremde aus Kolchis, die in Korinth aneckt: mit ihrem Selbstbewusstsein und mit anderen Wertvorstellungen und Traditionen. Im Text schwingt die Unzufriedenheit und Fremdheit deutlich mit, die Christa Wolf, eben noch gefeierte, dem DDR-Regime in kritischer Solidarität verbundene Dichterin, nach der Wende im wiedervereinigten Deutschland erlebte. Angefeindet wegen Stasi-Vorwürfen suchte sie mühsam ihren Platz im grundlegend veränderten gesellschaftlichen Umfeld.

Ihre „Medea“-Beschreibung ist aber auch der Versuch, die Figur zu entdämonisieren, ihr Verhalten nachvollziehbar zu machen. Wolfs „Medea“ ist keine Kindsmörderin, sondern das Opfer von Intrigen, Verleumdungen und ein klassischer „Sündenbock“, wie er oft in der politischen Psychologie beschrieben wurde.

Mit diesem Stoff wählte das Deutsche Theater – wie schon mehrfach in dieser Spielzeit – einen lesenswerten, anregenden, vielschichtigen Roman, der sich besonders schwer auf die Bühne übertragen lässt. Regisseur Tilmann Köhler transformierte die Monologe gemeinsam mit der Dramaturgin Juliane Koepp in eine zweieinhalbstündige Spielfassung, die sowohl den durch knöcheltiefes Wasser watenden Spielern als auch dem Publikum einiges abverlangt.

Maren Eggert steht nach der Wasserschlacht in heutig wirkender Kleidung am Beckenrand und sinniert ratlos, wie es so weit kommen konnte, dass sie zur Verfemten wurde und wie eine Gesellschaft aussehen müsste, in die sie passen würde. Diese nachdenkliche „Medea“ ist ein interessanter Kontrapunkt zur blutig-rasenden „Medea“, die Constanze Becker und Michael Thalheimer einige Meter weiter in ihrer aus Frankfurt mitgebrachten Inszenierung auf die Bühne des Berliner Ensembles wuchten.

Etwas zu oft wälzt sich hingegen Kathleen Morgeneyer als Glauke in epileptischen Anfällen im Becken. Das ist zwar gekonnt gespielt, der Effekt nutzt sich aber bei jeder Wiederholung weiter ab. Lisa Hrdina verkörpert die intrigant-schnippische Agameda, eine ehemalige Schülerin der Medea. Helmut Mooshammer und Thorsten Hierse geben die geheimnisvollen Astronomen des Kreon, während Edgar Eckert in die Rolle des opportunistischen Jason, der Medea fallen lässt, schlüpfen muss.

Vor allem die erste Hälfte ist recht spröde geraten, der Schluss kippt ins Gegenteil und droht im Rennen und Brüllen zu versinken. Trotz dieser Mängel ist „Medea. Stimmen“ ein Abend, der der Vielschichtigkeit der Vorlage gerecht zu werden versucht, die verschiedenen Motive aufgreift und es sich, anders als Eva Biringers Nachtkritik behauptet, nicht so bequem macht, in einer auf die feministische Sicht verkürzten Interpretation stecken zu bleiben.

Bilder: Arno Declair

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