„Man weiß nicht, wo das Theater beginnt und die Realität aufhört, man kann es und man soll es auch nicht wissen“, schrieb Peter Michalzik in einem Porträt über das Dokumentartheater-Kollektiv.
Auf ihr neues Projekt „DO’s & DON’Ts – eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt“, das heute am HAU 1 in Kreuzberg seinen Start- und Zielpunkt hatte, trifft dies ganz besonders zu. In einem zum Bus umgebauten LKW wird das Publikum zu einer Tour zu den hässlichen, kontrastreichen Ecken Berlins mitgenommen. „Die Stadt stellt ein riesiges Laboratorium zur Beobachtung alltäglichen menschlichen Verhaltens dar“, schreibt Rimini Protokoll im Programmheft.
Die Reiseleitung hat ein sehr ungleiches Duo inne: Rudi, ein zurückhaltender Busfahrer, irgendwo aus der norddeutschen Tiefebene, der es mit den Verkehrsregeln nicht so genau nimmt und bereits 7,5 Punkte in Flensburg hat. Neben ihm sitzt die quecksilbrige, altkluge Berliner Pflanze Dido, die bei Zwischenstopps aus dem Wagen springt und mit Videoeinspielern ihres Schulchors für den musikalischen Rahmen der Tour sorgt.
Auf dem Hermannplatz berichtet Dido über die Kriminalitätsrate und fühlt sich sichtlich unwohl. Die jungen Männer mit Migrationshintergrund fragen neugierig nach, ob hier gefilmt wird, und ziehen gleichgültig ihres Weges, als sie ihnen erklärt, dass sie Teil einer Theater-Performance ist. Mit großen Augen taxieren Neuköllner Hipster den Bus: Rudi hat bei der Premiere an der Ecke Weserstraße/Roseggerstraße einen Paketdienst-LKW etwas unsanft touchierte. Es gab zwar keine schweren Blechschäden, der Paketbote bestand aber trotzdem darauf, die Polizei zu rufen, die erstaunlich schnell zur Stelle war.
Am Bahnhof Südkreuz klinkt sich auch Didos Bruder Jasper ein: eine Mischung aus Skater-Boy, Schülersprecher und politisch engagiertem Anarchisten, der von einer freien Gesellschaft ohne Regeln und Zwänge träumt. Auf dem Bahnsteig irritiert er die neuen Systeme für Gesichtserkennug, weil er minutenlang regungslos stehenbleibt, klettert dann über den Zaun zum Tempelhofer Feld und erklärt uns, wie streng die Freizeitaktivitäten auf dem Tempelhofer Feld reglementiert sind, und macht sich mit Rudi schließlich einen Spaß daraus, die Autofahrer im abendlichen Berufsverkehr dadurch zur Weißglut zu treiben, dass sie den Bus mitten auf dem Tempelhofer Damm querstellen.
„Welche Freiheiten habe ich? Was darf ich nicht mal denken? Wie wäre es, ohne Regeln zu leben?“ Es macht Spaß, Dido, Jasper und Rudi bei dem Versuch zuzusehen, Neukölln und Tempelhof unsicher zu machen. „DO’s & DON’Ts“ ist zwar kein neuer Meilenstein im Werk von Rimini Protokoll, aber ein erfrischend frecher, mal ganz anderer Stadtrundfahrts-Theaterabend.
Bilder: André Wunsdorf