Ich weiß nicht, was ein Ort ist…

Drei sichtlich derangierte Gestalten kommen auf die Bühne: Haben wir wirklich gerade sechs Stunden lang den „Sommernachtstraum“ gespielt? Wie nach einem typischen Castorf-Abend verschwimmt alles in ihrer Erinnerung: Waren es sechs Stunden oder nicht doch 24 oder gar 48? Das ratlose Trio (die beiden Volksbühnen-im-Exil-Veteran*innen Kathrin Angerer und Martin Wuttke und das Pollesch-erprobte Zürcher Ensemble-Mitglied Marie Rosa Tietjen) haben komplett den Überblick verloren.

Die Verwirrung wird noch größer: Hat das Stück gar nicht richtig begonnen? Wurde überhaupt gespielt? Diese Frage hört sich auf den ersten Blick nach einer neuen Wendung im Hirnverknäuelungs-Assoziations-Theater von René Pollesch an, hat aber einen sehr ernsten Hintergrund: Genau das ist der Vorwurf, der dem russischen Regisseur Kirill Serebrennikow gemacht wurde. Er soll Geld für einen „Sommernachtstraum“ veruntreut haben. Die Inszenierung, von der es nicht nur Plakate, sondern auch Augenzeugenberichte und Rezensionen gibt, soll nie stattgefunden haben: Willkommen bei Franz Kafka und in Wladimir Putins gelenkter Demokratie.

Die drei Spieler*innen schweifen von der Frage nach dem Sein oder Nichtsein ihres Sommernachtsalbtraums schnell ab und werden grundsätzlicher. Mit Schmollmund-Weltschmerz konstatiert Angerer: „Alles Leben ist ja eh ein Prozess des Niedergangs.“ Die anderen beiden stimmen mit ein und philosophieren, inspiriert von F. Scott Fitzgerald, über den „Knacks“. Pollesch-Kenner wissen, dieses Leitmotiv hat er vor kurzem auch in „Black Maria“ durch seinen Theorie-Fleischwolf gedreht. Der „Anschlussfehler“ zieht sich als Running Gag ebenfalls durch beide Arbeiten, die kurz nacheinander nur mit dem Abstand weniger Wochen entstanden sind.

In die Pollesch-üblichen Diskursschleifen und Zitatgewitter aus Texten von Donna Haraway, Gilles Deleuze und vielen anderen mischt sich die überlebensgroße Pranke von King Kong ein. Auf Barbara Steiners Bühne, die von einem Wald aus Glühlampen gerahmt ist, wird sie zum zentralen Element. Das Trio missbraucht die Affenpranke als Psycho-Couch, Turn-Gerät und Schlafplatz. Hemmungslos beginnt Angerer mit dem Affen zu flirten und verschneidet dabei die ikonischen „King Kong“-Bilder mit der Schimpansen-Liebessatire „Max mon amour“ von Nagisa Ōshima. Wie Charlotte Rampling nennt Angerer ihren Angebeteten „Max“ an und hangelt sich dabei um ihn herum.

Der Titel „Ich weiss nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis“ ist eine doppelte Anspielung auf Brechts „Maßnahme“ und den Schmerz von Pollesch, Angerer und Wuttke über das Ende von Castorfs Volksbühne, wie die drei sie kannten und prägten. Im Lauf des Schreib- und Probenprozesses spielte der Titel ebensowenig eine Rolle wie das Café Manzini am schläfrig-vornehmen Berlin-Wilmersdorfer Ludwigkirchplatz, das im Untertitel „Manzini-Studien“ gewürdigt wird.

Nicht ganz so verqualmt wie bei Pollesch üblich verläuft seine neue Zürcher Diskurs-Komödie in den gewohnten Bahnen und entlässt das Publikum nach knapp 100 Minuten dank des Italo-Pop-Hits „Mi fido di te“ von Jovanotti in die Nacht.

Bild: Lenore Blievernicht

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