Border

Eines der herausragenden Kinoerlebnisse des Jahres ist „Border/Gräns“ des iranisch-schwedischen Regisseurs Ali Abbasi. Sein Genre-Grenzen sprengendes Werk war der Überraschungshit der Reihe „Un certain regard“ in Cannes 2018 und gewann dort den Hauptpreis.

Auf den ersten Blick ist „Border“ ein Fantasy-Drama: Im Mittelpunkt steht Tina, ein Outlaw mit übernatürlichen Fähigkeiten. Göran Lundström und Pamela Goldammer haben ganze Arbeit geleistet: Eva Melander, die 20 kg zunehmen musste und täglich vier Stunden in der Maske war, ist derart aufgedunsen und entstellt, dass sie kaum mehr wiederzukennen ist. Die Oscar-Nominierung für dieses Make-Up war hochverdient, das schwedische Duo zog aber den Kürzeren gegen Greg Cannom, der Christian Bale für „Vice“ in einen Dick Cheney-Wiedergänger verwandelte.

Das trollartige Wesen Tina hat sichtlich Probleme, sich in der schwedischen Gesellschaft zurechtzufinden. Der Schmerz über Mobbing und Ablehnung ist ihr in ihr entstelltes Gesicht eingeschrieben. Sie lebt am Rande der Gesellschaft am Waldrand in einer Zweckgemeinschaft mit einem Mann, der sie nur benutzt und sich viel mehr für seine Kampfhunde interessiert.

Anerkennung bekommt Tina nur wegen ihrer Gabe, dass am Zoll kein Verdächtiger ihrem übermenschlichen Geruchssinn entgeht: vom Jugendlichen, der an den strengen skandinavischen Gesetzen vorbei Alkohol schmuggeln will, bis zum scheinbar seriösen Geschäftsmann, der im Chip seines Smartphones Kinderporno-Aufnahmen versteckt hat – keiner schafft es, Tina zu überlisten.

Der Film wandelt sich deshalb vom Fantasy-Film und von der gesellschaftskritischen Parabel über eine Außenseiterin, die nicht den Normen und Schönheitsvorstellungen entspricht, hin zu einem Thriller über Ermittlungen gegen einen Kinderporno-Ring.

„Border“ lässt es damit noch längst nicht bewenden. Abbasis Film erzählt auch noch die Liebesgeschichte von Tina zu Vore (Eero Milonoff). Die beiden entstellten Außenseiter lernen sich an der Grenzkontrolle näher. Tina findet Geschmack an den Käfern und Insekten, die sie gemeinsam mit Vore verspeist, und kommt ihren Wurzeln auf die Spur. Auch hier schlägt das Drehbuch von John Ajvide Lindqvist, der mit seinem 2008 verfilmten Horror-Vampir-Coming-of-Age-Roman „So finster die Nacht“ bekannt wurde, noch einige unerwartete Haken.

Das Aufeinanderprallen der beiden merkwürdigen Trollwesen Tina und Vore ist derart bildstark in Szene gesetzt, dass ein deutlicher Klassen-Unterschied zur Hollywood-Fantasy-Schmonzette „Shape of Water“ von Guillermo del Toro deutlich wird. SZ-Autorin Martina Knoben hat recht: „Die Sexszene von Vore und Tina ist eine der bizarrsten, heftigsten Kinosexszenen seit Langem. (…) Die tabubrechende, aber verschämt inszenierte Vereinigung von Frau und Fischmann in Guillermo del Toros „Shape of Water“ wirkt jedenfalls wie Blümchensex dagegen.“

Ali Abbas gelang mit seinem zweiten Film nach seinem Debüt „Shelley“, das im Panorama der Berlinale 2016 wenig Beachtung fand, ein echter Coup. Schweden reichte den Film zwar in der Kategorie als bester nichtenglischsprachiger Film ein. Er wurde aber dort übergangen. Im Gegensatz zum deutlich schwächeren, höchst umstrittenen „Werk ohne Autor“, zum melodramatisch-schleppenden „Cold War“ oder zu Cuaróns vergleichsweise bravem „Roma“ schaffte es der packende Genre-Mix „Border“ nicht mal in die Endrunde der Top 5. Eine sehr fragwürdige Entscheidung, denn „es ist etwas Besonderes, nach vielen Jahren als Kinokritikerin einer Geschichte zu begegnen, die man so noch nicht gesehen hat“, schrieb Katja Nicodemus in der ZEIT.

Bild: © Wild Bunch Germany

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