Les Misérables

Nein, hier geht es nicht um die mit Hollywoodstars gespickte Musical-Version des dicken Wälzers „Les Misérables“ von Victor Hugo, die 2013 in die Kinos kam.

In diesem Beitrag geht es um einen bemerkenswerten Debüt-Film, der zwar denselben Titel trägt, aber mit Victor Hugo nur wenig und mit opulenten Kostümen rein gar nichts zu tun hat. Der französische Romancier wird in diesem Drama von Ladj Ly nur zwei Mal explizit erwähnt: Im Abspann nach dem Showdown mit einem Zitat und recht früh im Film, als Stéphane (Damien Bonnard) auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens sitzt und von seinen beiden neuen Kollegen Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djibril Zonga) durch Montfermeil, eine der berüchtigten Pariser Banlieues, gefahren wird. Sie grinsen darüber, dass sich Stéphane, der aus einer besseren Gegend dorthin versetzt wurde, natürlich darüber informiert hat, dass Hugo seinen melodramatischen Roman „Les Misérables“ in diesem Vorort von Paris angesiedelt hat, wo heute eine Schule nach ihm benannt ist.

Ly nimmt sich sehr viel Zeit, die handelnden Personen einzuführen und die Sozialstruktur des Problemviertels vorzustellen. Wie Stéphane kann sich auch der Kinozuschauer langsam an die fremde Welt herantasten. Als Chefin der Polizeiwache hat zunächst Jeanne Balibar, Frank Castorfs Muse, einen kurzen Auftritt. Anschließend begegnen uns: der Pate des Viertels, der in der Öffentlichkeit nur mit einem Trikot mit der Aufschrift „Le Maire“ auftritt und die Schutzgelder von Mitarbeitern in amtlich wirkenden Westen eintreiben lässt; ein zu den Muslimbrüdern konvertierter ehemaliger Krimineller; eine Roma-Familie, die mit ihrem Zirkus gastiert; ein kleiner Nerd-Junge, der mit seiner Drohne nicht nur durch Badezimmer-Fenster filmt, sondern dessen Luftaufnahmen vor allem die erste Hälfte von „Les Misérables“ prägen.

Dem Sozialdrama ist anzumerken, dass Ly die Strukturen sehr gut kennt: er ist als Sohn von Migranten aus Mali in Montfermeil aufgewachsen und drehte 2005 seinen ersten Dokumentarfilm „365 jours à Clichy-Montfermeil“ über die Gewalt, die sich damals in den Pariser Vororten entlud.

Bei seinem Spielfilmdebüt erzählt Ly von den wechselnden Bündnissen zwischen den um die Vorherrschaft im Problemkiez rivalisierenden Gruppen und von der Verstrickung der beiden alteingesessenen Polizisten, die munter mitmischen und sich nicht nur damit erpressbar machen, sondern auch durch die Schüsse auf den Jungen Issa, der das Löwen-Baby der Zirkusfamilie geklaut und damit auf Instagram geprahlt hat. In einem Gewaltexzess verletzt der Polizist Gwada den bereits mit Handschellen gefesselten Issa schwer.

Stéphane, der immer wieder versucht, in diesem unübersichtlichen Interessengeflecht zu vermitteln und für Dialog wirbt, gerät zwangsläufig zwischen die Fronten, als die Gewaltspirale einsetzt und in einen Showdown in einem der Hochhäuser dieser Trabantanstadt mündet.

„Les Misérables“ ist ein ungewöhnlich souveränes Erstlingswerk eines Regisseurs, der genau weiß, wovon er erzählen will, und beeindruckt durch starke Bilder, die in Erinnerung bleiben. In Cannes teilte er sich mit „Bacauru“ den Silbernen Löwen für den Preis der Jury.

Das Schöne am Filmfest München ist, dass man die Highlights von der Croisette schon knapp vier Wochen später als Deutschland-Premiere sehen kann. Auf den Kinostart des Banlieue-Dramas „Les Misérables“ wird man voraussichtlich noch bis Januar 2020 warten müssen.

Nachtrag: „Les Miserables“ schaffte es zwar auf die Oscar-Short-List für den besten nicht-englischsprachigen Film, konnte sich aber wie schon im Wettbewerb um die Goldene Palme von Cannes nicht gegen „Parasite“ durchsetzen.

Bild: © FILMFEST MÜNCHEN 2019

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