König Lear

Die Shakespeare-Tragödie vom König Lear, der von seinen Töchtern aufs Altenteil abgeschoben wird, hat Thomas Melle in seiner Fassung für die Münchner Kammerspiele gründlich entstaubt. Den Spieler*innen macht es sichtlich Spaß, die frischen Texte zu sprechen: sehr pointiert, gerne auch drastisch und derb, mit Schlagworten aus der Netzwelt garniert. Melle gehört spätestens seit der zum Theatertreffen 2018 eingeladenen Adaption seines autobiographischen Bestsellers „Die Welt im Rücken“ zu den gefragtesten Bühnenautoren im deutschen Sprachraum, gerade wurden erst eine Neufassung der Nibelungen-Saga bei den Wormser Festspielen und sein Kunstdiskurs-Auftragswerk „Ode“ am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt.

Zum Saisonstart im September 2019 hatten die Münchner Kammerspiele als das frisch gebackene „Theater des Jahres“ für ihre „König Lear“-Neufassung neben Melles Text ein gut aufgelegtes Ensemble zu bieten, aus dem die beiden Girlie-Töchter Goneril (Julia Windischbauer) und Regan (Gro Swantje Kohlhof), der androgyn-schlangenhafte Edmund (Thomas Hauser), sein Halbbruder Edgar im David Bowie-Look (Christian Löber) und die zwischen allen Stühlen sitzende Gräfin von Gloucester (Wiebke Puls) hervorragen.

Welche Stoßrichtung dieser Abend hat, wird schon aus den Vorwürfen gegen diese Adlige deutlich: Sie „fraternisiere mit den Schwänzen“, werfen ihr Regan und Goneril vor, die sich zunächst bei ihrem Vater einschleimen, ihn dann eiskalt abservieren, ihre ganze Wut herausrappen und die Männer so eiskalt abservieren wie Sandrine Bonnaire und Isabelle Huppert in Chabrols Psychodrama. Als „Biester“, die über Leichen gehen, zeichnen Melle/Pucher die wütenden jungen Frauen. Anders als bei Shakespeare überleben sie das Gemetzel. Sie schießen, würgen und morden sich den Weg an die Macht frei. „Jetzt ist endlich alles möglich“, jubeln sie. Melle/Pucher setzen hier einige Fragezeichen: Das Patriarchat der „alten, weißen Männer“, für das Lear (Thomas Schmauser) prototypisch steht, mag beseitigt sein, aber wird die Welt mit diesem weiblichen Mörderinnen-Duo lebenswerter und friedlicher? Die Sympathie des Regisseurs und des Stück-Autors gehört eindeutig der an den Rand gedrängten Cordelia (Jelena Kuljić), die mahnt: „Wer nur die Figuren austauscht ohne die Regeln zu ändern, spielt das alte Spiel.“

Stefan Pucher und die Münchner Kammerspiele haben sich an diesem Abend einiges vorgenommen: nicht nur einen Shakespeare-Klassiker zu entstauben, sondern auch eine Debatte über verschiedene feministische Strömungen anzuzetteln, die im Programmheft noch wesentlich ausführlicher diskutiert werden als auf der Bühne.

Doch dies geht an diesem von Samouil Stoyanov als Narr am Hof von Lear furchtbar verqualmten Abend nicht ganz auf. In die 2,5 pausenlosen, mit Motiven und Erzählsträngen überfrachteten Stunden schleichen sich zwischen schauspielerisch gelungene Momente zu viele Längen ein. Die Video-Ästhetik dieser Inszenierung, über der von Beginn der düstere Slogan „The End“ prangt, wirkt wie in den frühen 2000er Jahren stecken geblieben, als Pucher mit seinen ersten Zürcher Theatertreffen-Einladungen reüssierte.

Update: Die Inszenierung war für das Theatertreffen 2020 in der Diskussion, schaffte es jedoch nicht in die 10er-Auswahl.

Bilder: Arno Declair

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