Theater-Bilanz 2019

Was bleibt vom Theater-Jahr 2019 in Erinnerung?

Vor allem drei Highlights: Martin Kušej verabschiedete sich nach fast einem Jahrzehnt mit einem Paukenschlag als Intendant vom Münchner Residenztheater. Für die letzte Premiere überließ er Antonio Latella die große Bühne für eine ebenso kluge wie energiegeladene Göttliche Komödie, die Dante mit Pasolini kurz schloss, bis die Funken nur so sprühten. Ein Theater-Glücksfall, der leider nur wenige Vorstellungen er- und den Intendanz-Wechsel nicht überlebte. Aber vielleicht haben die Jury-Mitglieder den Abend für das Theatertreffen im Mai 2020 auf dem Schirm?

Als Autorinnen-Talent entpuppte sich Maja Zade, langjährige Dramaturgin an Thomas Ostermeiers Schaubühne, mit status quo: Sie stellt die üblichen Geschlechter-Rollenklischees auf den Kopf und überzeugte mit einem virtuosen, satirischen Stück zur #metoo-Debatte. Der Abend in der Regie von Marius von Meyenburg war vor allem eine Sternstunde von Moritz Gottwald als Florian, der sich der schmierigen Übergriffe breitbeinig-präpotenter weiblicher Vorgesetzter erwehren muss. „status quo“ ist eine toll gespielte, intelligente Komödie und eines der unterschätzten Stücke im Berliner Repertoire.

Tanz-Highlight war das Mega Israel-Gastspiel der Stuttgarter Compagnie von Eric Gauthier: ein mitreissender Abend, der sich vor drei israelischen Star-Choreograph*innen, nämlich Hofesh Shechter, Sharon Eyal und Ohad Naharin, verneigte und im Haus der Berliner Festspiele begeistert aufgenommen wurde. Diese Inszenierung tröstete darüber hinweg, dass die beiden neuen Choreographien der prominentesten Berliner Künstlerinnen an der Volksbühne nicht ganz überzeugen konnten: Sasha Waltz fand im März bei rauschen zwar schöne Bilder, das Stück war aber zu raunend und beliebig, Constanza Macras verzettelte sich bei Der Palast mit einem überfrachteten Gentrifizierungs-Thesen-Stück mit Game Show-Parodie, das nicht an ihren Gorki-Hit Hillbrowfication heranreichte.

Erschreckend schwach war in diesem Jahr 2019 das Theatertreffen. Nur zwei Inszenierungen konnten überzeugen: Christopher Rüpings Dionysos Stadt, ein zehnstündiger Marathon, ein Gemeinschaftserlebnis, bei dem antike Mythen durch den Fleischwolf gedreht werden, Theater-, Soap-TV- und Kleinkunstgenre wild durcheinander gemixt werden und Nils Kahnwald als charmanter Conferencier die Übersicht behält. Diese Inszenierung hat 2019 so ziemlich alle Preise im deutschen Sprachraum abgeräumt, kam aber im großen Saal des Berliner Festspielhauses nicht so gut zur Geltung wie in der intimeren Atmosphäre der Kammer 1 an der Münchner Maximilianstraße. Ein weiterer tt-Stammgast ist Ulrich Rasche, dessen marschierende, brüllende Chöre perfekt zu Agota Kristofs düsterem Das große Heft passten. Das Rezept dieser Maschinerie ist nach mehreren Variationen bekannt, aber sie ist exzellent geölt und immer noch ein eindrucksvolles Erlebnis. Als Nachwuchs-Darsteller des Festivals wurde Johannes Nussbaum ausgezeichnet, der anschließend aus Dresden nach München wechselte.

Einen Eklat gab es bereits kurz vor dem Festival-Auftakt: Ersan Mondtags atmosphärisch dichtes Schauer-Stück Das Internat konnte nicht gezeigt weren. Im Netz kursierten Spekulationen und Schuldzuweisungen, woran das Dortmunder tt-Gastspiel scheiterte.

Ansonsten dominierten Langeweile und Tristesse das Theatertreffen: schon der Auftakt mit der Hotel Strindberg-Überschreibung von Simon Stone war ein Flop. In banalem Soap-Stil schleppten sich die mehr als vier Stunden dahin, einziger Lichtblick war ein zehnminütiger Slapstick der Burgtheater-Stars Caroline Peters und Martin Wuttke. Das Publikum musste außerdem eine langatmige Adaption des Wälzers Unendlicher Spaß, die sich in einer Nummernrevue erschöpfte, mit Erniedrigte und Beleidigte eine der üblichen, assoziativ vor sich hinwuchernden Quältheater-Kopfgeburten von Sebastian Hartmann, eine sperrige Adaption des Ingmar Bergman-Klassikers Persona, mit Oratorium eine schwächere Arbeit des She She Pop-Kollektivs, eine weitere Nebelmaschinen-Produktion von Thom Luz und die Flachwitz-Molière-Überschreibung Tartuffe oder Das Schwein der Weisen von Claudia Bauer aus Basel über sich ergehen lassen.

Wird sich das Theatertreffen von diesem Niveau-Tiefpunkt erholen? Im nächsten Jahr wird sicher einiges anders, allein schon wegen der umstrittenen Jury-Entscheidung, dass bei der Auswahl der Regisseur*innen eine Quote eingeführt wird.

Am „Theater des Jahres„, den Münchner Kammerspielen konnte ich außer „Dionysos Stadt“ in diesem Jahr noch weitere bemerkenswerte Inszenierungen sein: vor allem No Sex von Toshiki Okada, das auf der Longlist des Theatertreffens hängen blieb, mit seinen vier storchenhaft staksenden schrägen Vögeln aber ein großer Gewinn für das Festival gewesen wäre, und Christopher Rüpings schon etwas ältere HamletInszenierung mit Nils Kahnwald und Katja Bürkle als Gefühlsterroristen. Leider zum letzten Mal stand die tolle Farce Trüffel Trüffel Trüffel im Sommer auf dem Spielplan. Als etwas zu leichtgewichtig erwies sich Leonie Böhms Yung Faust-Annäherung an einen Klassiker für Abi-Stress-geplagte Oberstufenschüler*innen. Auch Stefan Pucher bekam die Vernon Subutex-Trilogie nicht in den Griff.

An den großen Berliner Häusern gab es viel Licht und Schatten:

Das Deutsche Theater überraschte mit der wunderbaren Drag-Revue ugly duckling von Bastian Kraft, bei der autobiographische Erlebnisse von Berliner Szene-Performer*innen mit Motiven aus Hans Christian Andersens Märchen verschmolzen.

Ein fester Bestandteil im DT-Kalender sind die beiden Festivals „Radar Ost“ und „Autorentheatertage“. Bei ersterem war Kirill Serebrennikows Who is happy in Russia-Triptychon vom Gogol Center eingeladen, das nicht so phantastisch wie Machine Müller im vergangenen Jahr war. Zum Glück gab es erste Anzeichen, dass Serebrennikows kafkaeske Justizposse in Moskau ein positives Ende nehmen dürfte und der geplanten „Decamerone“-Inszenierung am DT hoffentlich nichts mehr im Wege steht. Bei den Autorentheatertagen überzeugte vor allem Jan-Christoph Gockels raffiniertes, vielschichtiges Die Revolution frisst ihre Kinder vom neuen Festival-Kooperationspartner Schauspiel Graz. Elfriede Jelinek schrieb ein neues Stück Schnee Weiß über Missbrauch und Nationalismus im Ski-Zirkus, Stefan Bachmanns Kölner Uraufführungs-Inszenierung blieb aber ebenso blass wie das von Protesten begleitete atlas von Thomas Köck aus Leipzig über das Schicksal vietnamesischer Flüchtlinge. Aus Zürich war René Polleschs Ich weiß nicht, was ein Ort ist eingeladen: zwischen all den von Promis vorgeführten Gags über „Anschlussfehler“ und den „Knacks“ wurde überdeutlich, wie Polleschs Diskurs-Maschine zum Hochglanz-Fließband-Theater verkommt. Viele Motive und Passagen tauchten auch wenige Wochen später in Polleschs zweiter DT-Produktion Black Maria auf.

Zu den Enttäuschungen am DT zählten Christopher Rüpings verqualmte Kopfgeburt In der Sache Robert J. Oppenheimer und das tempelherr-Auftragswerk von Ferdinand Schmalz. Angela Merkel gab sich die Ehre bei der Molière-Komödie Der Menschenfeind, die Anne Lenk altmeisterlich vom Blatt inszenierte.

An der Schaubühne konnte Maja Zade mit ihrem zweiten Stück abgrund, einer Familientragödie am Abendessen-Tisch, die Intendant Ostermeier selbst inszenierte, nicht an ihren „status quo“-Hit anknüpfen. Damit eröffnete das FIND-Festival, das traditionell im Zentrum der Schaubühnen-Saison steht: das wütende Paisajes para no colorear aus Chile kam beim sofort aufspringenden Publikum am besten an, lohnend war auch das katalanische Dokutheater Trans (més enllà). Die Festival-Enttäuschung war die New Yorker Wooster Groop, die in Town Hall Affair am Re-Enactment einer legendären feministischen Debatte aus den 60er Jahren scheiterte. Über ein Sammelsurium kam auch das chinesische Gastspiel Popular Mechanics nicht hinaus.

Ansonsten bot die Schaubühne eine sympathische Plauder-Performance von Mark Waschke und einen deutlich zu dünnen Studio-Abend der Herbert Fritsch-Schüler*innen um Bastian Reiber mit Prometheus.

Am Gorki Theater brillierte Jonas Dassler in Kafkas Bericht für eine Akademie. Am Premieren-Wochenende war er schwer im Stress, weil auch noch Fatih Akins „Der goldene Handschuh“ mit ihm in der Hauptrolle auf der Berlinale uraufgeführt wurde. Dieses Energiebündel-Ausnahmetalent rockte einen Abend von Oliver Frljić, der ansonsten zäh und über weite Strecken gedanklich sehr platt war.

Auch Hakan Sivas Micans sehr verqualmte Nacht von Lissabon retteten starke Schauspieler*innen: Dimitrij Schaad, der im Sommer 2019 leider eine kreative Auszeit ankündigte, prägte den Begriff „Applausflittchen“ und zeigte seine Rampensau-Qualitäten, Anastasia Guberava überzeugte mit tollen Gesangseinlagen.

Yael Ronen, die in früheren Spielzeiten ein Garant für tolle Gorki-Arbeiten war, bot bei Third Generation – Next Generation nur den Aufguss einer Arbeit, mit der sie vor einem Jahrzehnt an der Schaubühne bekannt wurde.

Die Volksbühne war 2019 in einer Übergangszeit. Klaus Dörr stellte ein Programm hochkarätiger Gastspiele anderer großer Häuser zusammen. Neben Edgar Selges Unterwerfung-Solo waren zum Beispiel die sehr ätherische Immer noch Sturm-Inszenierung mit dem frisch gekürten Ifflandring-Preisträger Jens Harzer, Thorbjörn Arnassons hochgelobte, aber nur zum Teil überzeugende Edda aus Hannover und das Sophiensaele-Debüt Allee der Kosmonauten von Sasha Waltz neu oder wieder zu erleben.

Das Übergangs-Team, das bis zu René Polleschs Amtsantritt im Sommer 2021 die Geschicke der Volksbühne leitet, präsentierte auch erste Eigenproduktionen: ein „Quartett“ nach Heiner Müller von Mizgin Bilmen wurde nach künstlerischen Differenzen noch vor der Premiere abgesetzt. Die Schweizer Autorin Katja Brunner schrieb mit Die Hand ist ein einsamer Jäger den stärksten neuen Text des Jahres, den Pinar Karabulut im 3. Stock der Volksbühne jedoch nur popfeministisch umtänzelte. Von hohen Erwartungen wurde Lilith Stangenbergs Comeback an der Volksbühne begleitet, Stefan Pucher ließ sie als Lulu jedoch allein. Er fand keinen Weg, das angestaubte Stück aus dem 19. Jahrhundert mit seinen fragwürdigen Geschlechterbildern für die Gegenwart zu übersetzen.

Am schlechtesten war Oliver Reeses Berliner Ensemble in Form: Der 86jährige Jürgen Holtz beeindruckte zu Jahresbeginn zwar mit einem eindrucksvollen Solo als Galileo Galilei. Die restlichen sechs Stunden waren aber Castorf as usual: über den ehemaligen Volksbühnen-Hausherrn scheint die Zeit hinweg gegangen.

Ein Flop war Der letzte Gast des ungarischen Regisseurs Arpád Schilling, dessen Stückentwicklung über einen mysteriösen Flüchtling bei der Kritik gar nicht gut ankam. Aus der Autorenwerkstatt des BE ging Mario Salazars Neuköllner Räuberpistole Amir hervor, mit der Nicole Oder und ihre Spieler*innen so wenig anzufangen wussten, dass sie daraus eine skizzenhafte Collage machten, bei der nur noch Spurenelemente des Textes vorhanden waren.

Antú Romero Nunes, der in seinen besten Momenten wunderbare Inszenierungen zaubert, war mit seiner Max und Moritz-Nummernrevue deutlich unter Bestform und auch der blutig-züngelnde Othello von Michael Thalheimer gehörte nicht zu den stärksten Arbeiten des BE-Hausregisseurs.

Das HAU eröffnete das Jahr mit der Tarzan rettet Berlin-Hommage an Einar Schleef und präsentierte einige hochkarätige Co-Produktionen. Der Chinchilla…. Arschloch Waswas-Abend zum Thema Tourette von Rimini Protokoll war zwar wesentlich interessanter als ihre Roboter-Lecture Uncanny Valley im Haus der Berliner Festspiele, gehört aber auch nicht zu den Großtaten dieses Kollektivs, das 2020 sein 20jähriges Jubiläum feiert. Die größte Enttäuschung des Berliner Theaterjahres war Ersan Mondtags kunstgewerblicher, mit Gasgerüchen quälender Suizid/Kolonialismus-Abend De Living, der in Gent Premiere hatte.

Einen sehr talentierten Jahrgang von UdK-Musical-Studierenden stellte Peter Lund in seiner Drachenherz-Produktion an der Neuköllner Oper vor, die dort am 2. Januar 2020 zum letzten Mal zu sehen ist. Die Komische Oper verabschiedete sich mit einer tollen Operetten-Ausgrabung in die Sommer-Pause: Roxy und ihr Wunderteam der „Geschwister Pfister“ bringt Fußball und Travestie auf sehr unterhaltsame Art zusammen. In der freien Tanzszene gehörte Perineum von Lillie Rouvière und Julian Weber zu den Entdeckungen. Ihr getanztes Beziehungs-Duett wurde leider zu selten am Dock 11 gespielt.

Einen spannenden Stoff brachte schließlich Kay Voges, den es von Dortmund ans Volkstheater Wien zieht, im Hamburger Schauspielhaus auf die Bühne: Für José Saramagos dystopischen Roman Stadt der Blinden fand er schlüssigere Bilder, als es ihm bei seinen sonstigen Freestyle-Kompilationen gelang.

Volker Lösch setzte sich in Dresden ein halbes Jahr vor der Landtagswahl dramaturgisch recht holprig mit dem AfD-Programm auseinander. Das blaue Wunder diente vor allem der Selbstvergewisserung der linken Szene der Stadt und bot zahlreichen Initativen eine Plattform.

Große Einschnitte brachte der Sommer: in Zürich beendete Barbara Frey ihre Intendanz: außer dem erwähnten Pollesch-Stück habe ich dort einen recht konventionellen Hamlet der scheidenden Hausherrin mit einer beeindruckenden Fechtszene und die Herbert-Fritsch-typische Sonntags-Krimi-Parodie Totart Tatort gesehen. Den Pfauen und den Schiffbau übernahmen in der zweiten Jahreshälfte Nicolas Stemann/Benjamin von Bloomberg mit einem sehr diversen Team von Hausregisseur*innen. Am Residenztheater ersetzte Andreas Beck, der aus Basel eine Reihe seiner Überschreibungen mitbringt, Martin Kušej, den es ans Wiener Burgtheater zog. Alle drei großen Neustarts warben zahlreiche bekannte Namen anderer Häuser ab, auffällig war der große Exodus Berliner Schauspieler*innen nach München, Zürich und Wien, nur wenige zog es in die Gegenrichtung.

Über die spannenden Neustarts in München/Wien/Zürich und das triste zweite Berliner-Theater-Halbjahr, das nur wenige Lichtblicke wie die 24stündige Show von Taylor Mac im Haus der Berliner Festspiele aufmischten, werde ich nach dem Ende der Spielzeit 2019/20 schreiben.

Bild: Matthias Horn

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert