Als erster Film ging der argentinische Noir-Psycho-Thriller „El Prófugo“ in den Wettbewerb um die Bären. Regisseurin Natalia Meta gründete nach ihrem Philosophie-Studium in Buenos Aires zunächst den Verlag „La Bestia Equilátera“, in dem sie vergriffene Romane ihrer britischen Lieblingsautorin Muriel Sparks neu herausbrachte. Auch ihr Debütfilm „Muerte en Buenos Aires“ war ebenfalls ein Genre-Film und erzählte von einem Lockvogel in der queeren Szene der argentinischen Hauptstadt, wurde in Deutschland jedoch außerhalb der MonGay-Reihe kaum wahrgenommen.
Ihr zweites Werk „El prófugo“ basiert auf dem Roman „El mal menor“ ihres früh an Leukämie verstorbenen Landsmanns C. E. Feiling und schildert, wie sich die Hauptfigur Inès (Érica Rivas) in eine Paranoia hineinsteigert. Bevor der Filmtitel mit den ersten Credits auf der Leinwand erscheint, erzählt Meta in einem ungewöhnlich langen Vorspann die Vorgeschichte ihrer Heldin: in der ersten Einstellung erleben wir Inès bei ihrer Arbeit, wie sie ganz professionell einen typischen B-Movie-Horror-Trash synchronisiert. Die Stimme ist ihr wichtigstes Arbeitswerkzeug, auch als Sopranistin in einem Chor, bei ihrer zweiten Hauptbeschäftigung. Außerdem erleben wir Inès bei diesem langen Intro bei einer Urlaubsreise mit ihrem Liebhaber Leopoldo (Daniel Hendler, Gewinner des Silbernen Bären 2004 für die jüdische Familien-Saga „El abrazzo partido“). Als er neben ihr ein Nickerchen macht, raunt ihr die Stewardess plötzlich zu, dass dieser Mann ganz offensichtlich nicht der Richtige sei und bietet ihr an, ihn zu erwürgen. Dieser plötzliche Einbruch des Surrealen in ein realistisches Setting war vielversprechend.
Leider geht der Film „El prófugo“ anschließend wesentlich konventioneller weiter. Ohne echte Spannung, nur mit leichtem Mystery-Grusel im Stil von Schauergeschichten des 19. Jahrhunderts kreist der Film um das zentrale Motiv der Stimme, das in verschiedenen, oft recht abgedroschenen Varianten durchdekliniert wird: der Kontrollverlust über die eigene Stimme, plötzlich auftretender Hall und verzerrte Stimmen auf den Synchronbändern und vor allem die Stimmen im Kopf von Inès, die zusetzen und Befehle geben. Nach einem mysteriösen Unfalltod ihres Liebhabers Leopoldo sind ihre Mutter (gespielt von Almodóvar-Muse Cecilia Roth in einer Paraderolle) und der geheimnisvolle Organist Alberto (Nahuel Pérez Biscayrat, der in Arthouse-Dramen wie „120 bpm“ meist gebrochene, rätselhafte Charaktere verkörpert).
Das Noir-Psycho-Drama „El Prófugo“ erklärt die Paranoia-Albträume der Protagonistin mit ihren sexuellen Phantasien und bedient die üblichen Koventionen und Klischees dieser Gattung. Als Genre-Film funktioniert es einigermaßen solide, für den Wettbewerb eines A-Festivals drängt es sich aber nicht auf und wäre in der Panorama-Nebenreihe besser aufgehoben.
Bild: Nahuel Pérez Biscayart, © Rei Cine SRL, Picnic Producciones SRL