Ichundich

Ein ambitioniertes Projekt stemmte das Schauspiel Wuppertal zum Abschluss der vergangenen Spielzeit im Juli 2019: die israelische Regisseurin Devi Baron inszenierte Else Lasker-Schülers selten gespieltes, erst Jahrzehnte nach ihrem Tod uraufgeführtes Drama „Ichundich“, ein Crossover-Projekt aus Sprech- und Tanztheater in einer ehemaligen Fabrikhalle anlässlich des 150. Geburtstags der Dichterin.

Rätselhaft ist schon der Text: Lasker-Schüler ließ Faust, Mephisto und Marthe Schweidtlein auf Nazi-Schergen wie Goebbels, Himmler und Heß treffen. Ihre Goethe-Überschreibung siedelte sie in der Gegenwart ihres Jerusalemer Exils von 1940/41 an. Mit seinen artifiziell-archaischen Versen verweigert sich der Text bewusst einer schnellen Konsumierbarkeit. Schwer zugänglich und zäh ist vor allem der Beginn, bei dem Schlüsselsätze leitmotivisch wiederholt werden.

Die sechs Akte werden unterbrochen von tänzerischen Einlagen, die im Lauf des Abends eindringlicher werden und ihre Höhepunkte bei einer hochenergetischen Choreographie zu orientalischen Klängen und einer Nazi-Stechschritt-Hitlergruß-Parodie vor und nach dem vierten Akt haben, die mit ihren abgehackten Bewegungen an Kreationen von Ohad Naharin und Sharon Eyal erinnert.

Die „Ichundich“-Sprechoper mit Tanz-Intermezzi wird auf einer Sandfläche in einem zirkusartigen Rund gespielt. Von Lasker-Schülers Vorlage entfernt sich der Abend vor allem an zwei Stellen: der vierte Akt, in dem Faust und Mephisto debattieren, ob sie ein Bündnis mit Hitler eingehen, wird von Thomas Braus stark gerafft und zu einer Nachrichtensprecher-Parodie verknappt. Später wenden sich Studentinnen und Studenten aus Tel Aviv und von der UdK mit einer Kurzintervention direkt an die 1945 in Jerusalem verstorbene Autorin und klagen den wachsenden Rechtsextremismus an.

So rätselhaft und vielschichtig wie der Text von Lasker-Schüler ist auch die Stilmix-Collage, die Baron und ihr Team inszenierten. Mit der Frage, was für sie die Hölle ist, befassen sich die Spieler*innen und Tänzer*innen in Video-Statements am Ende dieser knapp 90minütigen Inszenierung, bevor der Schluss-Satz „Klumbumm, klummbumm. Gott ist da“ noch mehr unbeantwortete Fragen hinterlässt.

Dieser ungewöhnliche Theaterabend, der mit Hilfe mehrerer Stiftungen abseits der Leuchttürme der Metropolen- und Staatstheater gestemmt wurde, fiel auch der Theatertreffen-Jury auf. Er war zwar in der Diskussion, schaffte es letztlich jedoch nicht in die 10er-Auswahl des Jahrgangs 2020, ist dafür noch bis morgen im Corona-Stream-Angebot von Nachtkritik abrufbar.

Bilder: Uwe Schinkel

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