Hamlet

Dieser Abend hätte ganz anders verlaufen sollen: Das 57. Theatertreffen wäre planmäßig heute im Haus der Wilmersdorfer Festspiele mit dem gewohnten Trubel und dem lauten Stimmengewirr der üblichen Verdächtigen des Theaterbetriebs, der Politprominenz, der Wilmersdorfer Zahnärzt*innen und der verzweifelt nach Restkarten Suchenden eröffnet worden. Zum Auftakt des zweiwöchigen Festivals wollten die Festival-Organisator*innen diesmal besonders glanzvolle Namen bieten: Shakespeaere mit seiner Tragödie „Hamlet“ und in der Titelrolle Sandra Hüller, im Theater gleichermaßen erfolgreich wie im Kino. Ihr sollte an diesem Wochenende auch der Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung überreicht werden.

Doch das Corona-Virus machte diesen Plänen einen Strich durch die Rechnung. Das jährliche Branchentreffen findet nur als virtuelle einwöchige Schrumpf-Version statt, von der 10er-Auswahl können nur sechs Arbeiten als Mitschnitte im Netz präsentiert werden.

Dass „Hamlet“ gezeigt werden kann, ist dem Glück des Tüchtigen zu verdanken, das 3sat hatte: Am Tag der Aufzeichnung, die wie üblich einige Wochen vor dem Festival vor ausverkauftem Haus stattfinden sollte, war das Schauspielhaus Bochum bereits geschlossen. Worum die Bundesliga-Manager in ihren verzweifelten Öffnungsdiskussionsorgien kämpfen, war hier in den letzten Augenblicken vor dem Shutdown schon einmal Realität: Vor leerem Haus durften die Spieler*innen noch einmal exklusiv für den TV-Mitschnitt auftreten.

Das Problem dieser Geister-Aufführung ist jedoch, dass die Leere, die im Regie-Konzept des regieführenden Intendanten Johan Simons eine wesentliche Rolle spielt, noch potenziert wird. Die langen Kameraschwenks über die minimalistisch-kahle Bühne von Johannes Schütz betonen die depressiv-entschleunigte Grundstimmung des Abends noch weit mehr, als es ihm gut tun würde. Wir blicken in die gähnende Leere des Parketts, wo an diesem Abend nur die Spieler*innen sitzen und ihren Kolleg*innen zuschauen, während auf ihren Auftritt warten: ein von Jürgen Gosch kopiertes Stilmittel.

„Hamlet“ ist hier kein Amokläufer und Gefühlsterrorist, wie wir ihn zum Beispiel als gespaltene Persönlichkeit bei Katja Bürkle und Nils Kahnwald in den Münchner Kammerspielen erlebt haben. Der Titelheld ist stattdessen ein sehr leise sprechender, nachdenklicher, fast zerblich wirkender junger Mann, der in getragenen Monologen an sich und der Welt leidet. In einigen Momenten, in denen Sandra Hüller in ihrer Hosenrolle jeder Silbe nachlauschen darf, ist die Inszenierung ganz bei sich.

Der Abend setzt jedoch zu sehr auf die Virtuosität seines Stars. Zu raunender und zirpender Musik schleppen sich die zwei Stunden über weite Strecken konturlos dahin. Der Shakespeare-Experte Holger Syme kommentierte im Nachtkritik-Chat nach der Online-Aufführung treffend, dass bei aller schauspielerischen Klasse das dramaturgische Konzept auf halber Strecke stecken blieb. Ähnlich verhalten war auch die Stimmung vieler anderer Diskutant*innen.

Lag es nur an der Geister-Aufführung im Stream, die die beschriebenen Schwächen besonders augenfällig machten, dass der nach der Premiere in Bochum hochgelobte „Hamlet“ so kalt ließ? Oder wäre bei einem Live-Gastspiel im Haus der Berliner Festspiele der Funke übergesprungen?

Bilder: JU Bochum

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