Mourning becomes Electra

„I am a free bitch!“ schmettert Lavinia (Paula Kober) nach mehr als 2,5 Stunden in den Saal der Volksbühne. Die einzige Überlebende des inzestuösen Mannon-Familien-Clans feierte ihren Sieg zuvor schon mit einem „Pokerface“-Solo von Lady Gaga.

So popfeministisch und mit eindeutiger Botschaft endet Pinar Karabuluts Bearbeitung des dreiteiligen Stücks von Eugene O´Neill, der im Jahr 1931 die Atriden-Saga des Aischylos übermalte. Bis es soweit ist, jongliert Karabulut munter mit mehreren Stilen.

Während der ersten Stunde sitzen wir zwar im Theatersaal, verfolgen aber einen vorproduzierten Film: Zum Intro einer langen Autofahrt werden die Namen aller Produktionsbeteiligten eingeblendet, bis die Kamera am Familiensitz der Mannons angekommen ist. Dort erleben wir eine Soap Opera im Edel-Trash-Stil voller ausladender Gesten, hysterisch-neurotischer Dialoge und psychologischer Konflikte, in der sich vor allem Sabine Waibel als Matriarchin Christine in den Mittelpunkt spielt. Ihre von der antiken Klytaimnaistra inspirierte Figur zieht wie schon in Thorleifur Örn Arnarssons „Orestie“ die Fäden in dieser „Familienhölle im Dauerloop“, wie es auf der Volksbühnen-Website treffend heißt. Leon Landsbergs Kamera folgt den Spieler*innen quer durch fast die gesamte Volksbühne: vom Treppenhaus über das Foyer bis zu den verwinkelten Kellern, und lässt uns teilhaben, wie die Figuren täuschen, lügen und begehren á la Dallas oder Denver-Clan.

Irgendwann hebt sich dann doch der Vorhang und die Familien-Saga findet live auf der Bühne ihre Fortsetzung. Das verschachtelte Anwesen, das Michela Flück in demonstrativer Schieflage auf die Drehbühne gewuchtet hat, ist eine deutliche Hommage an Bert Neumann, dessen Konstruktionen viele Abende von Frank Castorf und René Pollesch prägten. Bei ihrem Debüt im großen Saal am Rosa Luxemburg-Platz verneigt sich Karabulut, die gerade ins künstlerische Leitungsteam der Münchner Kammerspiele wechselte, tief vor Neumann und Castorf.

Allerdings tappt sie dabei in dieselbe Falle, die auch schwächere Castorf-Abende kennzeichnet: „Mourning becomes Electra“ irrlichtert und verheddert sich, muss immer wieder neuen Anlauf nehmen. Nach jedem Durchhänger meldet sich Karabulut zwar wieder mit einem Pop-Kracher zurück, vor allem im letzten Drittel hat der Abend jedoch zu viele Längen. Eine Parodie auf Zauber-Shows und Varietés ist deutlich zu ausgewalzt, bevor der Abend endlich zu seinem eingangs erwähnten Schluss-Spurt ansetzt.

Die Castorf-typische Lust am Fremdtext ist auch bei dem langen Monolog von Malick Bauer im Mittelteil zu spüren, der ausgehend von den Themen Seenotrettung und geringe Zahl schwarzer Schauspieler auf den deutschen Bühnen eine laut Programmheft selbstverfasste Solo-Nummer vorträgt, in der er aktuelle politische Fragen durchdekliniert, die jedoch zu wenig Bezug zum sonstigen Bühnengeschehen haben: weder zur Soap noch zum feministischen Empowerment-Manifest.

Aus einem Guss ist dieser turbulente, überdrehte Abend sicher nicht, trotz einiger Schwächen und Längen hat er jedoch seine unterhaltsamen Momente.

Bilder: David Baltzer

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