Marienplatz

Verwundert streift Beniamin M. Bukowski durch München: Er ist irritiert vom krachledern-protzigen „Mia san mia“-Selbstbewusstsein, mit dem der Reichtum auf der Maximilianstraße zur Schau gestellt wird und mit dem Ministerpräsident Markus Söder die Corona-Entwicklung anderer Bundesländer mit guten Ratschlägen kommentiert. Er ist belustigt von der Selbstverständlichkeit, mit der sein Landsmann, der frisch gekürte Weltfußballer Robert Lewandowski aus dem Triple-Sieger-Star-Ensemble, eingemeindet wird, während man allem Fremdem ansonsten so skeptisch gegenübersteht wie der Polizist mit Persönlichkeitsspaltung, der von Bühnen- und Kostümbildnerin Sigi Colpe einen Polizeihelm verpasst bekam, der an eine Christbaumkugel erinnert und der nun eifrig Giorgio Agamben und Carl Schmitt rezitiert. Merkwürdig berührt ist der polnische Autor auch von der allgegenwärtigen Formel „Grüß Gott“, die ihm im bayerischen Alltag täglich begegnet, in jedem Geschäft, in jeder Behörde. Am meisten überrascht ihn aber, dass sich hier vor drei Jahren, im Mai 2017, auf dem Marienplatz im Herzen der Stadt ein Mann öffentlich selbst verbrannte, über den bis heute nichts bekannt ist: weder seine Identität noch seine Motive. Während die Nachricht von Jan Pallachs Selbstverbrennung auf dem Wenzelsplatz 1969 als Protestaktion gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings weltweit wahrgenommen wurde, nahm die Öffentlichkeit von diesem Suizid mitten in München vor drei Jahren kaum Notiz.

Dieses Ereignis und die ausbleibenden öffentlichen Reaktionen sind der Ausgangspunkt für Bukowskis Stück „Marienplatz“, das als Auftragswerk des Bayerischen Staatsschauspiels im Rahmen einer Schreib-Residenz entstand und gestern vom ungarischen, in Berlin lebenden Regisseur András Dömötör statt im Marstall als Online-Premiere uraufgeführt wurde. Moritz von Treuenfels tritt als Alter ego des polnischen Dichters Bukowski auf und führt durch einen assoziativ abschweifenden Text, der den Motiven für die Selbstverbrennung auf den Grund gehen will.

In vier Rekonstruktions-Versuchen beschreibt Thomas Lettow mit wissenschaftlicher Genauigkeit die vier Stadien einer Verbrennung oder erforscht gemeinsam mit Liliane Amuat in einem Experiment mit Grillfleisch, wie es wohl riechen mag, wenn sich ein Mensch mit Benzin übergießt und in Flammen aufgeht. „Nie wieder Krieg von deutschem Boden“ und „Amri ist nur die Spitze des Eisbergs“: diese beiden Satzschnipsel standen auf dem Auto des anonymen Selbstverbrenners. Zu Xylophon-Begleitung lässt Regisseur Dömötör sein Ensemble diese Worte skandieren. Den Ursachen kommen sie nicht auf den Grund, die Tat bleibt ein Rätsel, genauso wie die Selbstverbrennung von Zdeněk Adamec, der Titelfigur eines neuen Handke-Textes, der vor kurzem bei den Salzburger Festspielen sowie am Deutschen Theater Berlin inszeniert wurde.

Da die Rekonstruktion der Tat und die Motivsuche in Sackgassen gerät, weichen Bukowski und sein Bühnen-Alter ego oft auf allgemeinere Ebenen aus, denken über die Schuld nach. Immer wieder landen sie bei der biblischen Geschichte von Abraham, dem von Gott befohlen wird, seinen Sohn Isaak zu opfern. „Marienplatz“ ist mit Motiven aus Ideengeschichte und Philosophie gespickt, so dass die knapp 90 Minuten etwas überfrachtet wirken. Irritierend ist z.B. ein Zwiegespräch zwischen dem allwissenden Gott (Myriam Schröder) und seinem Psychotherapeuten (Nicola Kirsch), das erneut den Isaak-Erzählstrang aufnimmt, der sich durch den Abend zieht, ohne dass er wirklich überzeugend mit der Selbstverbrennung verbunden wurde.

Regisseur Dömötör, der zuletzt vor allem am Gorki Theater und am DT Berlin arbeitete, nimmt sich stark zurück. Selten gibt es kleinere Gags oder einen Song wie von Liliane Amulat, die zur E-Gitarre rockt: „I am so lonely, before I die.“ Im Vordergrund steht der uraufgeführte Text, den er rhythmisch zur Geltung bringt.

Bilder: Sandra Then

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