Einen melancholischen, nur 72 Minuten kurzen Film reichte die französische Meister-Regisseurin Céline Sciamma für den Wettbewerb ein: „Petite Maman“ basiert auf einem surrealen Gedankenexperiment: Nach dem Tod der Großmutter reisen Tochter Nelly und Mutter Marion in die alte Heimat, um den Haushalt der Verstorbenen aufzulösen. Während Marion für einige Tage plötzlich verschwindet, freundet sich Nelly im Wald mit einem gleichaltrigen Mädchen an. Wie sich nach und nach herausstellt, traf sie in einer Zeitreise auf ihre „petite maman“, auf ihre eigene Mutter im Kindesalter.
Sciamma entwickelt aus diesem bizarren Konstrukt einen poetisch-rätselhaften Film, der zwar nicht so hervorragend ist wie ihre stärksten Werke ist, zuletzt das in Cannes 2019 ausgezeichnete „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, aber durchaus sehenswert.
Auch der zweite ungarische Wettbewerbs-Beitrag neben dem Kriegsdrama „Natural Light/Természetes fény“ von Dėnes Nagy in fahlem Licht voller Grau- und Sepiatöne ist sehr düster. Sein Landsman Bence Fliegauf, der 2012 mit „Just the Wind“ einen Silbernen Bären gewann, kehrt mit „Forest – I see it everywhere/Rengeteg – mindenhol látlak“ in den Berlinale-Wettbewerb zurück.
Sieben unverbundene Miniaturen bilden eine Collage von Wut, Trauer, Schmerz und Konflikt. In Zweier- oder Dreierkonstellationen werden der unerfüllbare Kinderwunsch, die Schuld am Tod der Mutter, die Angst vor einer Operation oder die Wut auf einen Scharlatan, der verzweifelten Todkranken viel Geld abknöpft, verhandelt. Selten gelingt dies so eindringlich, wie in der vorletzten Szene, in der sich ein Teenager-Sohn und Rollenspiel-Fan mit dem christlichen Fundamentalismus seiner Mutter hitzig auseinandersetzt. Ansonsten mäandern die knapp zwei Stunden recht zäh dahin: menschliches Leid reiht sich an menschliches Leid, die Figuren wirken austauschbar und verschwinden so unvermittelt, wie sie auftauchten, so dass diese Revue menschlicher Traumata kaum berührt.
Die erst 20jährige Lilla Kizlinger wurde für ihren Part in diesem Ensemble-Film mit dem neuen Unisex-Silbernen Bären für die beste Nebenrolle ausgezeichnet.
Ein sehr eigenwilliges, versponnenes Kunstkino-Märchen ist der DFFB-Abschlussfilm „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?/Ras vkhedavt, rodesac cas vukurebt?“ des Georgiers Alexandre Koberidze, das es überraschend in den Berlinale-Wettbewerb schaffte.
Der Film zelebriert seine Langsamkeit, mit sonorer, monotoner Märchenonkel-Stimme kommentiert der Erzähler aus dem Off, wie sich Lisa und Giorgi bei einer zufälligen Begegnung verlieben, nach einem Fluch aber nicht wiedererkennen, einen Sommer lang aneinander vorbeileben und schließlich durch die Magie des Kinos doch noch zueinander finden. Der Film hat immerhin eine kleine Prise hübscher Ideen, z.B. die Fußballbegeisterung der Straßenhunde, die sich wie die Menschen gespannt vor den Public-Viewing-Wänden einfinden, wenn Messi und sein argentinisches Team antritt, und manch schöne Bilder wie ein Fußballspiel von Jugendlichen zu Gianna Nanninis WM-Hymne „Un´estate Italiana“ von 1990. Die 2,5-Stunden werden jedoch zur Geduldsprobe.
„Was sehen wir…“ ist ein Film, der polarisiert: bei der Bären-Vergabe ging er leer aus, erhielt aber den FIPRESCI-Kritiker-Preis im Berlinale-Wettbewerb.
Die charmant-witzige Komödie „Ninjababy“ der Norwegerin Yngvild Sve Flikke befasst sich mit ungewollten Teenager-Schwangerschaften. Mit frechen Kommentaren mischt sich der animierte Embryo in die Überlegungen der überforderten Mutter Rakel (Kristine Thorp) ein, wem sie das Baby anvertrauen soll, da es für eine Abtreibung zu spät ist.
Nach einer anarchisch-ironischen ersten Stunde, die großen Abstand zu den Klischeefallen eines Sozialdramas hält, wird die zweite Hälfte melodramatischer und ernster. Die Tragikomödie mit Comic-Elementen bleibt stets unberechenbar und ist in der Sektion „Generation 14+“ der Berlinale sehr gut aufgehoben.
Leider ging „Ninjababy“ bei der Verleihung des Gläsernen Bären leer aus. Der Preis für den besten Film, der sich an Jugendliche und junge Erwachsene richtet, ging an „La mif/The Fam“ aus der Romandie. Regisseur Fred Baillif, ehemaliger Schweizer Basketball-Nationalspieler und Streetworker, entwickelte mit den Teenagerinnen einer Jugendhilfe-Einrichtung ein Sozialdrama im Stil des Cinema Verité. Der raue Ton der improvisierten Dialoge wirkt sehr authentisch, allerdings schleppt sich das Porträt der Jugendlichen und ihrer Betreuer in der ersten Hälfte zu langatmig dahin.
Zur interessantesten Figur entwickelt sich Lora, die Leiterin der Jugendhilfe-Einrichtung, die von Claudia Grob gespielt wird: Wie fast der gesamte Schauspiel-Cast ist sie Laiin und eine ehemalige Streetworker-Kollegin des Regisseurs. Die Jury der Sektion „Generation 14+“ ließ sich davon berühren, wie die empathische Hauptfigur am Ende vor dem Scherbenhaufen ihres Lebenswerks steht.
Vorschaubild: Joséphine Sanz und Gabrielle Sanz in „Petite Maman“, © Lilies Films