Bevor René Pollesch im September als Intendant an sein Stammhaus, die Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz, als Intendant zurückkehrt, eröffnete er den kleinen Rest, der von dieser vom Corona-Lockdown zerfressenen Spielzeit noch übrig ist, mit seiner letzten Inszenierung am Deutschen Theater Berlin.
Dieser Zeitdruck, dass Pollesch und sein Team unbedingt noch die fünfte und letzte am DT verabredete Inszenierung zeigen wollten, bevor die Spielzeit in wenigen Wochen endet und sich der Regisseur seinen neuen Aufgaben widmen wird, drängt sich als Erklärung für diesen dürftigen Abend auf. „Goodyear“ wirkt wie eine beliebig aneinandergereihte Sketch-Revue. Thematisch kreist der 75 Minuten kurze, fast komplett im schmalen Programmheft abgedruckte Abend um die Formel 1, das Ensemble wurde von Kostümbildnerin Tabea Braun in die typischen Overalls dieser Rennserie gesteckt. Wie wandelnde Litfasssäulen laufen die Spieler*innen über die Bühne: die drei Volksbühnen-Veteraninnen Christine Groß, Astrid Meyerfeldt und Sophie Rois sowie Katrin Wichmann und Jeremy Mockridge, die schon mehrfach am DT mit Pollesch zusammengearbeitet haben.
Die Formel 1-Story wird an ein Filmset verlegt. Mit sehr naheliegenden Schauspiel-Meta-Gags hangelt sich das Team durch den Abend: Rois spielt die Rennfahrer-Darstellerin, die einfach nicht mehr aus ihrer Rolle heraus findet. Mit viel österreichischem Schmäh spielt sie sich ins Zentrum des Abends. Mockridge beklagt sich, dass er keinen Fuß in seine Rolle und seine Szene bekommt und verheddert sich in einer Slapstick-Nummer im Klappstuhl. Dazwischen kurvt ein überdimensionaler Glitzer-High Heel im Glamrock-Stil als größter Schauwert über Barbara Steiners Bühne oder macht sich das Ensemble gemeinsam auf den Cinecittà-Kinderstar aus Luchino Viscontis weniger bekanntem, neorealistischem Frühwerk „Bellissima“ (1951). Die losen Fäden werden ebenso schnell wieder fallen gelassen wie sie aufgenommen wurden.
Meist bleibt der kurze Abend jedoch bei den Formel 1-Motiven stecken: mancher Dialog versinkt unter aufjaulendem Motorengeheul. Schon in der ersten Szene geht es um die tödliche Gefahr des Geschwindigkeitsrauschs, dem so viele Stars der Rennserie wie Ayrton Senna zum Opfer fielen. Pollesch und sein Team erinnern an Jochen Rindt, einen österreichischen Landsmann von Sophie Rois, der im September 1970 in Monza verunglückte, vor dem Saisonfinale aber bereits so großen Vorsprung hatte, dass er als erster und bisher einziger Fahrer posthum zum Weltmeister wurde. In der ersten Szene tragen die Spieler*innen noch nicht ihre Formel 1-Overalls, sondern kommt ganz in Schwarz und mit Trauerschleier zu einer Begräbnis-Szene auf die Bühne, bei der das tief ausgeschnittene Drag-Kostüm von Jeremy Mockridge als einzigem Mann im weiblich dominierten Ensemble der auffälligste Farbtupfer ist. Später werden auch immer wieder Zitat-Schnipsel der Rennfahrer-Witwe in den assoziativen Diskursstrom eingebaut.
75 Minuten lang wartet man jedoch auf zündende Pointen und etwas mehr Esprit, aber die Nummernrevue wird brav abgespult. Es wirkt so, als sei das Team vom unerwartet schnellen Ende des Lockdowns überrascht worden, das im April noch in weiter Ferne schien. Allzu schnell rasten Pollesch und seine Crew aus der Proben-Box mit quietschenden Reifen auf die Bühne.
Das Deutsche Theater Berlin reagierte schon am vergangenen Wochenende am schnellsten von allen Berliner Bühnen und trotzte Regen, Wind und Kälte dieses skandinavisch anmutenden Frühlings mit einer Überschreibung von Molières „Tartuffe“ auf dem Vorplatz. Nach dieser Open-Air-Eröffnung wollte das DT auch Indoor das erste Berliner Theater sein, dass seine Gäste wieder zu einer Premiere im Saal begrüßen konnte.
Während die Vorgaben des Hygienekonzepts aus Klaus Lederers Pilotprojekt vom Deutschen Theater minutiös eingehalten werden und die DT-Maschinerie beim aufwändigen Kontroll- und Einlass-Prozess wie geschmiert läuft, ist das Bühnengeschehen nach sieben harten Lockdown-Monaten eine Enttäuschung. Zu unfertig wirkt „Goodyear“.
Überraschend war, wie dicht gedrängt das Publikum platziert wurde: der Abstand im Schachbrettmuster ist nur noch symbolisch. Direkt im Nacken und vor sich hat man die nächsten Besucher. Diese sind zwar alle auch bereits geimpft oder getestet und müssen eine FFP2-Maske tragen, aber es bleibt doch ein mulmiges Gefühl, dass die Abstände in diesem Pilotprojekt wesentlich kleiner sind als wir es aus dem Herbst 2020 vor dem zweiten Lockdown kennen oder wie es z.B. am Münchner Residenztheater der Fall ist.
Bilder: Arno Declair