Frank Castorfs Bearbeitung von Erich Kästners Untergangs-Panorama „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ hat ein ähnliches Schicksal wie Thomas Ostermeiers „Vernon Subutex“ an der Schaubühne. Beide Großproduktionen mussten wegen der Corona-Lockdowns mehrfach verschoben werden. Im Gegensatz zu gutem Wein machten sie aber keinen Reifungsprozess durch, sondern gehören zu den schwächeren Arbeiten der beiden Regisseure, die das Berliner Theater in den vergangenen drei Jahrzehnten auf sehr unterschiedliche Arten prägten.
Auch Castorfs „Fabian“ leidet an einer schlurfenden Leerstelle im Zentrum. Volksbühnen-Veteran Marc Hosemann flüchtet sich in Heinz Rühmann-Parodien und langweilt während der ersten beiden zähen Stunden mit einer Sauf- und Puff-Tour mit seinem Kumpel Labude, den Andreas Döhler wie 100 andere Andreas Döhler-Rollen spielt. Wie „auf Autopilot“ wirkt Castorfs Theater an diesem Abend, stellte Peter Laudenbach in der SZ fest. Was ihn an dem Stoff interessiert, wird nicht klar, und auch das Publikum verliert das Interesse.
Frank Büttner ist zuverlässig zur Stelle, wenn es darum geht, Kästner-Fremdtext von der Rampe zu brüllen oder toxische Männlichkeit in Reinkultur zu performen. Auch Margarita Breitkreiz ist auf der Höhe alter Volksbühnen-Kunst und schreit sich in der zweiten Hälfte durch die Rolle der Fabian-Freundin Cornelia, die sich in der Filmbranche hochschläft. Neben den beiden Castorf-Stammkräften wirkt auch Sina Martens so souverän, als sei sie schon seit ewigen Zeiten am Rosa-Luxemburg-Platz dabei gewesen. Dieses Trio sorgt dafür, dass sich der Abend immerhin auf Castorf-Normal-Temperatur heranrobbt.
Ein typischer Castorf-Move ist der ironische Stinkefinger, den er den Feministinnen zeigt, die sich seit Jahren über sein Frauenbild beschweren. Aus der Varietè-Welt der Goldenen Zwanziger wirkt Madita Mannhardt herübergebeamt, die mit abgeklebten Brustwarzen und wenig Textil einen Auftritt wie in ihrem Hauptberuf als Burlesque-Tänzerin in der Potsdamer Straße hinlegt. Ihr zur Seite steht die junge französische Künstlerin Clara De Pin, die nur einen Hauch von Nichts trägt, während sie über die ersten Zuschauerreihen turnt. Ihre recht schmale Arbeitsbiographie umfasst außer Workshops und einer Kooperation mit Marina Abramovic eine P14-Produktion aus alten Volksbühnen-Zeiten und ein Freie Szene-Gastspiel im 3. Stock des Hauses.
Eitel wirkt der zweite typische Castorf-Move: in einem Selbst-Zitat lässt er Marc Hosemann und den ansonsten unterbeschäftigten Wolfgang Michael einen Slapstick auf Kartoffelsalat performen, wie ihn einst Henry Hübchen an der Volksbühne gezeigt haben soll, bevor er sich in zweitklassigen TV-Produktionen verlor.
Der rätselhafteste Teil sind die allzu oft eingestreuten Brief-Zitate über ein erotisches Dreieck zwischen Hamburg, Berlin und Paris, bei denen Castorf geschickt in der Schwebe hält, ob es sich hier um autobiographische oder einfach nur gut erfundene Abrechnungen der Frauen mit einem Regisseur handelt, der sich nicht binden will.
Es war eine Überraschung, dass dieses Castorf-Alterswerk für das Theatertreffen 2022 noch mal in die engere Wahl kam. In die 10er-Auswahl der bemerkenswertesten Arbeiten schaffte es die Inszenierung zurecht nicht.
Bilder: Matthias Horn