Das spitzbübische Grinsen von Sebastian Hartmann, als er sich die Eröffnungsszene des fast achtstündigen Live-Streams „Das Buch der Unruhe“ ausdachte, sehe ich geradezu vor mir: Eine gefühlte Ewigkeit, 40 Minuten lang, lässt er Torsten Ranft seine Jogging-Runden durch den Lichthof des Albertinums drehen. Den Kritiker*innen hat er damit wieder mal eine Denksportaufgabe gegeben: Was will uns der Künstler mit dieser Eröffnungs-Szene sagen?
Das restliche Ensemble hat zunächst noch frei und darf es sich bei der Übertragung der zweiten Halbzeit eines Fußball-EM-Vorrunden-Matchs gemütlich machen oder noch mal die Nachthemden zurechtzupfen, die Hartmanns bewährte Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki entworfen hat.
Während Ranft stoisch und mit beeindruckender Kondition seine Kreise zieht, die es ihm auch noch erlauben, seinen anschließenden Monolog zu sprechen, ohne ganz außer Atem zu sein, taucht eine junge Spielerin im Innenhof auf und fixiert mit Stirnrunzeln und irritiertem Blick einen Punkt in der Ferne. So fühlen sich Abonnent*innen des Dresdner Bildungsbürgertums auch regelmäßig während und nach Hartmann-Abenden.
Im Gegensatz zur Hochleistungs-Maschinerie, die Hartmann im November 2020 bei seinem „Zauberberg“-Live-Stream aus dem Deutschen Theater Berlin mit einer ganzen Armada von Live-Kameras einsetzte, agiert er beim „Buch der Unruhe“ bewusst mit weniger Perfektion. Ranft verliert sich immer wieder schemenhaft im Halbdunkel, ist im Hintergrund kaum auszumachen, taucht dann wieder in Großaufnahme vor dem Auge des Betrachters auf.
Schlafwandlerisch und wie Traumgestalten schweben die Spieler*innen, die sich nach und nach dazugesellen, durch die Anlagen der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die für dieses Event mit dem Staatsschauspiel kooperieren. Hartmanns Partnerin Cordelia Wege hat dabei noch im Nachthemd die Grandezza, mit der sie im Cocktail-Kleid ihren Schnellfeuer-Monolog „Die Politiker“ am DT Berlin performte.
Die Soli sind es auch, die von dieser überlangen Hartmann-Nacht in Erinnerung bleiben: wie Simon Werdelis sich schmerzverzerrt windend und stöhnend durch seinen mehr als halbstündigen Albtraum wühlt und den Lichthof in einem komplexen Spiel der Lichtregie mit dem Schatten, dem Halbdunkel und gleißenden Scheinwerfern durchpflügt, ist einer der raren Höhepunkte von „Das Buch der Unruhe“.
Ansonsten bekommt das Publikum viele bewährte Motive geboten, mit denen Hartmann zuletzt experimentierte: die Animationen von Tilo Baumgärtel, die Leinwand-Pinsel-Improvisationen, die aufgereihten Krankenhaus-Betten, in denen schon Markwart Müller-Elmau als Lear lag. Die sich überlagernden Bilder sind mittlerweile ein Markenzeichen von Hartmann. Manches ist eindrucksvoll, einiges aber auch etwas albern wie die „Peng“-Rufe, mit denen Gina Calinoiu auf ihre Mitspieler zielt und das Publikum nach drei Stunden aus ersten Ermüdungserscheinungen hochschreckt, oder unfreiwillig komisch wie die tänzerischen Einlagen und Dehnübungen, die einen vielleicht eher kunstfernen Scherzkeks im Chat an seinen Pilates-Kurs vom Vortag erinnerten.
Ein Kraftakt von Ensemble und Technik, der Respekt verdient und das Team in zwei Nächten hintereinander stemmte, ist „Das Buch der Unruhe“ allemal. Ob die Jury diesen Stream auch bemerkenswert genug findet, um Sebastian Hartmann nach „Der Zauberberg“ gleich wieder zum Theatertreffen einzuladen, wird sich Anfang 2022 zeigen. Das neue Jury-Mitglied Sascha Westphal war in seiner Nachtkritik jedenfalls sehr angetan.
Bilder: Sebastian Hoppe