Cruella

Disney-Filme sind eine sichere Bank. Das Publikum weiß vorab, dass es handwerklich tadelloses Fantasy-Unterhaltungskino geboten bekommt: familientauglich abgeschmeckt mit einer Prise Humor, Action und Spannung.

Ein weiteres Charakteristikum aktueller Disney-Produktionen ist, dass die Firma ihre alten Animationsfilm-Klassiker daraufhin screent, ob sich mit Spin-Offs und Real-Verfilmungen aus den bekannten Figuren und Plots weitere Kasse machen lässt. Eines der Highlights im Disney-Kosmos ist sicher der Animationsfilm „101 Dalmatiner“ (1961), die Adaption eines wenige Jahre zuvor erschienen Romans von Dodie Smith, mit einer Bösewichtin, die ihre ganze Verschlagenheit und Grausamkeit schon in ihrem Namen vor sich herträgt: Cruella de Vil, die Hunde entführt und häuten lässt.

Im neuen Film „Cruella“ erzählt der Disney-Konzern, wie diese Figur so böse werden konnte. Nicht besonders spannend sind die psychoanalytische Herleitung und die Aufarbeitung ihrer Familien-Traumata. Sehenswert machen diesen Film andere Faktoren:

Erstens ist hier Emma Thompson zu nennen. Als eiskalte, egozentrische Baroness von Hellman wird sie zur Gegenspielerin von Estella/Cruella. Die Mode-Zarin, die deutlich an Anna Wintour und den Film „Der Teufel trägt Prada“ (2006) erinnert, demütigt ihre Untergebenen und verströmt die Aura eines grenzenlosen Narzissmus. Erst als Thompson die Szenerie betritt, nimmt der Film, der sich bis dahin in einer recht langatmigen Exposition dahinschleppte, an Fahrt auf. Die zweite Stunde lebt vom Duell zwischen der etablierten Mode-Zarin und ihrer jungen Assistentin auf dem Rachetrip. Emma Stone spielt die Estella, die sich zur Cruella wandelt, als Punk-Rebellin, die deutliche Züge von Vivienne Westwood trägt, und befreit sich damit vom Image des lieben Mädchens in der seichten „La La Land“-Schmonzette (2017). Sie hätte auch den Golden Globe als beste Hauptdarstellerin in einer Komödie oder einem Musical verdient gehabt, musste aber der „West Side Story„-Hauptdarstellerin den Vortritt lassen.

Mark Strong als John the Valet und Emma Thompson als Baroness in „Cruella!“. Photo by Laurie Sparham. © 2021 Disney Enterprises, Inc. All Rights Reserved.

Zweitens ist der Film ein Ausstattungsfest: Jenny Beavan macht die Fashion-Shows, bei denen sich die beiden berühmten Emmas zu übertrumpfen versuchen und ihre freudianischen Konflikte ausagieren, zu einem Augenschmaus. Zwei Mal gewann sie bereits einen Oscar: 1987 für die Literaturverfilmung „Zimmer mit Aussicht“ und 2016 für den Fantasy-Blockbuster „Mad Max: Fury Road“. Ihren dritten Oscar holte sie sich hochverdient im März 2022 für „Cruella“ ab. Die opulenten Kostüme, die schrillen Farben und exzentrischen Einfälle der Kostümbildnerin machen einen großen Reiz des Films aus.

Drittens lohnt sich „Cruella“ als Nostalgie-Trip ins Swinging London. Der Soundtrack fährt das Best of der 60er und 70er auf: von den Rolling Stones und Beatles über The Doors und Supertramp bis zu The Clash und Blondie reiht sich ein Hit an den nächsten.

Regisseur Craig Gillespie, der zuletzt aus dem Eiskunstlauf-Rivalinnen-Drama „I, Tonya“ (2018) eine sehenswerte Tragikomödie machte, hat mit „Cruella“ erneut bewiesen, dass er nicht unterschätzt werden sollte. Auch wenn seine Filme keine großen Meisterwerke sind, ist „Cruella“ doch gut gemachtes Unterhaltungskino, das sich aus dem Einerlei der Popcorn-Multiplexe aus den genannten Gründen positiv abhebt.

„Cruella“ startete am 28. Mai 2021 auf Disney + und ist seit der Wieder-Eröffnung auch in einigen Kinos zu sehen.

Vorschaubild: Emma Stone als Titelfigur in „Cruella“. Photo by Laurie Sparham. © 2021 Disney Enterprises Inc. All Rights Reserved.

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