In den ersten Szenen von Thomas Vinterbergs „Der Rausch“ fühlt man sich in die U8 versetzt. Völlig enthemmte Jugendliche entern saufend und grölend die Bahn. Der öffentliche Nahverkehr wird zum verlängerten Arm von Ballermann und Berghain.
Die Enthemmung durch die kulturell akzeptierte Droge Alkohol wird in den knapp zwei Stunden in all ihrer Ambivalenz gezeigt: der strenge Geschichtslehrer Martin (Mads Mikkelsen) wird viel lockerer, als er vor dem Unterricht ein halbes oder ganzes Promill getankt hat. Die Schüler hängen plötzlich an seinen Lippen, während er sich mit flotten Sprüchen und witzigen Vergleichen ihre Aufmerksamkeit sichert.
Dass er nicht mehr so stocknüchtern und steif wie zu Beginn ist, ist Teil eines Experiments: vier Lehrer wollen ausprobieren, was an Finn Skårderuds These dran ist. Der norwegische Psychiater vertritt die Theorie, dass ein Mensch mit einem Blutalkoholspiegel-Defizit, also einem Blutalkoholspiegel, der 0,5 Promille unter den eigentlichen menschlichen Bedürfnissen liege, zur Welt kommt.
Es ist natürlich absehbar, wie sich die Tragikomödie „Der Rausch“ entwickelt: was leicht angeheitert noch ein harmloses Spiel ist, entgleist komplett. Die vier Männer torkeln und taumeln und entwickeln ein ernsthaftes Suchtproblem. Die entscheidende Schwäche des Films ist, dass er so thesenhaft und überraschungsarm ist.
In den vergangenen Monaten wurde oft beschworen, wie überlegen das Gemeinschaftserlebnis im dunklen Saal doch dem Streamen auf der Couch sei. Aber das Kino legt auch gnadenlos die Schwachstellen eines Films offen. Nichts demonstriert so untrüglich, dass sich ein gut gemeinter Film mit zu vielen dramaturgischen Löchern betulich dahinschleppt, wie die Sitznachbarin, die ihr bis zum Anschlag grell erleuchtetes Smartphone irgendwann zur Mitte des Films wesentlich spannender findet als Mads Mikkelsens Mimik.
Der Starschauspieler trägt diesen Film. Sein Tanz zum tollen Titelsong „What a life“ von Scarlet Pleasure und manche Szenen mit ihm deuten an, was für ein Filmfest „Der Rausch“ hätte werden können. So blieb Vinterbergs neues Drama allerdings deutlich hinter dem Meisterwerk „Das Fest“ (1997) zurück.
Im Corona-Ausnahme-Jahr wurde der Film dennoch mit Preisen überhäuft. Eigentlich sollte „Der Rausch“ schon im Mai 2020 in Cannes Premiere feiern, sie musste auf den September in Toronto verschoben werden. Im Advent bekam „Der Rausch“ gleich vier Europäische Filmpreise, Anfang des Jahres folgten der Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film und eine Nominierung für die beste Regie.
„Der Rausch“ startete am 22. Juli 2021 in den Kinos.
Bilder: Foto: Henrik Ohsten © 2020 Zentropa Entertainments3 ApS, Zentropa Sweden AB, Topkapi Films B.V. & Zentropa Netherlands B.V.