Wenn man sich von der durchgentrifizierten Mitte Berlins durch die schmutzigsten Ecken des Weddings kämpft und in Tegel in den Bus umsteigt, landet man irgendwann in einer unwirtlichen Industrie-und Baustellen-Brache, die irgendwo in the middle of nowhere zu liegen scheint und verwaltungsrechtlich zu dem sagenumwobenen Bezirk Spandau gehört, der so sehr in sich ruht, dass bei jeder tip-Umfrage egal zu welchem Thema immer dieselbe Antwort kommt: „Spandau“.
Dort dämmert die Belgienhalle vor sich hin, eine denkmalgeschützte Industrie-Ruine von beeindruckenden Ausmaßen. Der Investor Thomas Bestgen möchte dieses Areal entwickeln, Wohnungen bauen und auch – wie im Tagesspiegel zu lesen war – ein Theater für Constanza Macras und ihre Compagnie bauen, die derzeit der Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz verbunden ist. In diesem Spätsommer gastiert für drei Wochen in der Belgienhalle, die korrekterweise Frankreichhalle heißen müsste, da sie im Ersten Weltkrieg in Valenciennes als Kriegsbeute demontiert und in Berlin wiederaufgebaut wurde, ein opulentes Spektakel, das Österreichs Schauspiel- und Regie-Urgestein Paulus Manker schon 2018 in der Serbenhalle in Wiener Neustadt entwickelte. Der Investor fand es damals so toll, dass er dem Künstler die Halle mietfrei zur Verfügung stellte.
Mit Hilfe weiterer Sponsoren konnte Manker im zweiten Anlauf nach dem Lockdown dieses extrem ehrgeizige und eindrucksvolle Projekt endlich verwirklichen. Er ist ständig im Hintergrund präsent, gibt hier kleine Anweisungen, verteilt dort einen Rüffel an seine Mitarbeiter*innen, kommt schließlich in der vorletzten Szene als Kavallerieoffizier auch selbst auf die Bühne. Dann sind „Die letzten Tage der Menschheit“ schon mehr als sieben Stunden alt.
Aus dem Mammutwerk von Karl Kraus wählte Manker 75 der 220 Szenen aus, die am Tag der Ermordung des habsburgischen Thronfolgers einsetzen, als Mitteleuropa besinnungslos im Sommer 1914 in den Ersten Weltkrieg taumelte. Stark ist dieser Marathon immer dann, wenn Manker Gruppenszenen choreographiert, den Wagen durch die gesamte Halle fahren, die Statist*innen aufmarschieren lässt und Wimmelbilder erzeugt. So entstehen oft atmosphärisch dichte, eindrucksvolle Szenen. Aber zu oft gibt es in diesen langen Stunden auch kleinere Nummern, die als Soli zu breit ausgewalzt sind und von den gewaltigen Ausmaßen der Halle verschluckt werden.
Wenn Manker sein opulentes Spektakel um eine oder anderthalb Stunden kürzen würde, ginge es immer noch bis nach Mitternacht. Die mit Fackeln erleuchtete Untergangsstimmung des Jahres 1918 würde auch dann in der nächtlichen Fabrik-Ruine noch voll zur Geltung kommen, einiger Leerlauf dazwischen bliebe dem Publikum aber erspart.
Zum Kunstgenuss für stolze 115 € gehört an diesem Abend allerdings ein erlesenes Drei-Gänge-Menü, das nach vier Stunden am Büfett serviert wird und absolut lohnenswert ist: Lachs, Spinat-Rucola-Ravioli, Schweine-Medaillons, Backhuhn, Weine aus dem Burgenland, Kaffee und Topfenstrudel zählen zu den Köstlichkeiten der österreichischen Küche.
Den schlechtesten Eindruck an diesem Theater-Event, das von allen Beteiligten mit so viel Herzblut und als gewaltiger Kraftakt gestemmt wird, hinterlässt die Übergriffigkeit eines Schauspielers, der sich ohne jede Vorwarnung aus dem Spiel heraus auf Zuschauer stürzt. Das wäre schon zu „normalen“ Zeiten grenzwertig und respektlos, in Zeiten der Delta-Variante mindestens fahrlässig.
Bilder: Sebastian Kreuzberger