Zu den bekannteren Namen des Queerfilmfestivals 2021 zählt der argentinische Regisseur Marco Berger, der Stammgast im Panorama und Forum der Berlinale ist.
„Young Hunter“ (im Original: „El Cazador“) folgt zunächst den Regeln eines Coming of Age-Genre-Films: Der 15jährige Ezequiel (Juan Pablo Cestaro) tastet sich scheu an sein Coming-out heran, sendet begehrende Blicke, die zunächst meist unerwidert bleiben, bis er auf den selbstbewussteren Mono (Lautaro Rodríguez) trifft. Als Ezequiel sturmfrei hat, kommen sich die beiden erwartungsgemäß näher.
Doch wer glaubt, dass sich die Liebesgeschichte zwischen Ezequiel und Mono wie aus vielen anderen Filmen dieses Genres recht vorhersehbar weiterentwickelt, ging dem Regisseur auf den Leim. Nach einem Plottwist entwickelt sich „Young Hunter“ zum Darknet- und Missbrauchs-Drama, über das ich vorab nicht zu viel verraten möchte.
Marco Berger hat für seinen mittlerweile neunten Spielfilm, der im Januar 2020 beim Filmfest Rotterdam Premiere feierte, eine starke Plot-Idee. Ein Manko des Films ist allerdings, dass „Young Hunter“ sein Potential nicht ausschöpft. Zu abrupt sind manche Twists. Dennoch war „Young Hunter“ einer der Höhepunkte des Festivals.
Aufschlussreiche Einblicke in den Probenprozess für eine aufsehenerregende belgische Tanz-Produktion bietet der russische Dokumentar- und Essay-Filmer Aleksandr M. Vinogradov, der Thierry Smits und seine 11 Tänzer vom Casting bis zur Premiere ihrer mittlerweile abgespielten, aber auf Vimeo noch einsehbaren Produktion „Animal ardens“ begleiten durfte, die 2016 Premiere hatte.
Der Film „Bare“ schildert, wie Smits mit geringer Empathie aus der Flut von Bewertungen diejenigen Tänzer aussiebte, mit denen er schließlich arbeiten wollte, und wie die Gruppe über die lange, gemeinsame Zeit zusammenwuchs.
Ein besonderer Bonus war, dass der charismatische Valentin Braun, der seine Tanz-Karriere nach einer Verletzung mittlerweile leider beenden musste, beim Publikumsgespräch im Berliner Delphi Lux aus erster Hand berichtete, wie er die sehr intime Arbeit erlebte, bei der das gesamte Ensemble nackt auftrat, und wie das Verhältnis der künstlerischen Truppe zu dem stillen Beobachter und seiner Kamera war.
Eröffnet wurde das Festival mit „Firebird“ von Peeter Rebane, einem pathetischen Melodram über die heimliche Liebe eines Leutnants zu seinem jungen Rekruten auf einem sowjetischen Luftwaffen-Stützpunkt in den 1970er Jahren. Unter den Argus-Augen des KGB wird die Liebe zwischen Sergey (Tom Prior, der auch am Drehbuch mitgeschrieben hat) und Roman (Oleg Zagorodnii von Kirill Serebrennikows Moskauer Gogol Center) torpediert.
Enttäuschend war das Regie-Debüt „Die Rolle meines Lebens“ (im Original: „Garcon chiffon“) von Nicholas Maury, der mit der satirischen Filmbetriebs-Satire „Call my Agent“ und einem Camp-Auftritt in „Messer im Herz“ bekannt wurde. Die Tragikomödie über einen neurotischen Schauspieler, der chronisch eifersüchtig ist und in seinem Beruf auch nicht voran kommt, sollte im Mai 2020 in Cannes Premiere haben, was bekanntlich dem Lockdown zum Opfer fiel.
Als Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller hat sich Maury überhoben, sein knapp zweistündiger Film dreht sich zu sehr im Kreis. Aus der starken Besetzung mit Nathalie Baye als Mutter des Hauptdarstellers, die ihren Sohn nur „Waschläppchen“ nennt und Jean-Michel Barr als rüdem Regisseur hätte Maury mehr machen können.
Eine kleine Berliner Mumblecore-Gay-Version von „Before Sunrise“ drehte der spanische Regisseur Daniel Sanchéz López in seiner Wahlheimat Berlin. Dem 75 Minuten kurzen Werk ist deutlich anzumerken, dass es den Regisseur ebenso wie für seine beiden Hauptdarsteller die erste Film-Arbeit war. „Boy meets Boy“ ist ein sommerlich leichter, melancholischer Streifzug durch die Hitze des Prä-Corona-Jahres 2019. Die Kamera folgt einem Paar ein Wochenende lang , nachdem sie sich in einem Club kennengelernt haben.
Zwischen Harry (Matthew James Morrison) und Johannes (Alexandros Koutsoulis) knistert es spürbar, manche Dialoge plätschern in der zweiten Hälfte aber etwas zu banal. Eine Entdeckung dieses Films ist Alexandros Koutsoulios, der ein Studium an der HfS Ernst Busch absolvierte, im vergangenen Jahr im Ensemble-Stück „Fahrenheit 451“ im Neuen Haus auf der kleinen Bühne des Berliner Ensembles zu sehen war und nun ans Münchner Volkstheater wechselte.
Von der Berliner Schauspielschul-Talentschmiede stammt auch Thomas Prenn, der als „Demian“ im Winter 2019 in einem „Tatort“ beeindruckte, und die Hauptrolle in Evi Romens Debüt-Film „Hochwald“ spielt. Dieses Südtiroler Bergdorf-Drama trumpft mit einem hochbegabten Haupt-Cast auf: als gegensätzliche Pole erleben wir den schüchternen Mario (Thomas Prenn), der in seinem Dorf nach abgebrochener Ausbildung festhängt, sich mit Gelegenheits-Jobs durchschlägt und von einer Karriere als Tänzer träumt, und Lenz (Noah Saavedra, derzeit am Münchner Residenztheater), der erste Engagements in Wien und Rom ergatterte und beim gemeinsamen Bar-Besuch lieber mit sexuellen Gefälligkeiten für seinen Agenten an den nächsten Schritten arbeitet als sich für den alten Kumpel aus Jugend-Tagen zu interessieren.
Nach einem islamistischen Anschlag, der an das Attentat auf das Pariser Bataclan im November 2015 erinnert, wird Romens Film zunehmend konturlos. Sie kann sich nicht entscheiden, was sie erzählen will: ein Kolportage-Drama oder die Studie eines Außenseiters, der bei den Islamisten landet. Auch ein so hervorragender Darsteller wie Prenn, der dafür in diesem Jahr den Österreichischen Filmpreis erhielt, kann den Film, der im Herbst 2020 beim Filmfest Zürich überraschend den Hauptpreis gewann, nicht retten.
Ein schön gefilmtes Roadmovie ist „Sprung ins kalte Wasser„: ein zögerlich-verkopfter Typ (Vasilis Magouliotis) und ein draufgängerischer, clownesker Lebemann (Anton Weil) begegnen sich auf der Fähre von Griechenland nach Italien und machen sich auf den Trip zur Mutter von Victoras, die mit neuem Partner, Kind und Hund in bayerischer Vorstadt-Idylle lebt.
Stellios Kammitsis, der ein Assistent des griechischen Star-Choreographen Dimitris Papaioannou bei der Olympia-Eröffnungsfeier 2004 in Athen war, filmt seine Geschichte mit viel Sinn für Schönheit. Der Film lebt von der Dynamik zwischen den beiden Hauptdarstellern, die in einem langen Casting-Prozess sorgfältig ausgewählt wurden, landet aber am Ende zu sehr bei bekannten Klischees von der Rückkehr des verlorenen Sohns.
Von einem doppelten Trauma erzählen Matthew Fifer und Kieran Mulcare in ihrem semiautobiographischen Film „Cicada„. Die Beziehung von Ben (Co-Regisseur Matthew Fifer ist auch Co-Hauptdarsteller) und seinem schwarzen Freund Sam (Sheldon D. Brown) ist davon überschattet, dass beide Opfer einer Gewalttat wurden: der eine schon in der Kindheit als Missbrauchs-Opfer, der andere bei einem rassistischen Anschlag.
Das Ungewöhnliche an „Cicada“ ist, dass das Film-Team diese düsteren Themen mit viel Humor und Leichtigkeit angeht. Im Stil des New Yorker Indie-Kinos wähnt man sich streckenweise in einer sommerlich-leichten Beziehungskomödie, in der die Traumata immer stärker durchschimmern und am Ende klar benannt werden.
Bilder: Edition Salzgeber. Vorschaubild: Lautaro Rodríguez und Juan Pablo Estaro in „Young Hunter“