Eine Hommage in Schwarz-Weiß an einen Schriftsteller, Rebellen und Lebenskünstler drehte Andreas Kleinert: „Lieber Thomas“ nennt er seine Collage aus Szenen und Erinnerungsschnipseln, die zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt und chronologisch den wichtigsten Stationen des Lebens von Thomas Brasch folgt.
Für die Hauptrolle gewann der Regisseur den derzeit erfolgreichsten jungen Schauspieler der deutschen Filmbranche: Albrecht Schuch trifft mit einer Mischung aus Machotum und Verletzlichkeit einen interessanten Ton. Ob der mittlerweile in Vergessenheit geratene Dichter tatsächlich so auftrat, können wir Nachgeborene leider nicht beurteilen.
Ein Besetzungs-Coup gelang jedenfalls mit der zweiten Hauptrolle: Jella Haase erinnert nicht nur optisch, sondern auch mit ihrer erfrischenden, oft etwas schnoddrig-schelmischen Art an Katharina Thalbach. Gemeinsam mit Brasch siedelte Thalbach 1976 nach den Protesten gegen Wolf Biermanns Ausbürgerung nach West-Berlin. Am Schillertheater feierte sie mit „Lovely Rita“, das ihr Partner ihr auf den Leib geschrieben hat und in der DDR verboten wurde, ihre erste Premiere. Aus dem Berliner Kulturleben ist sie bis heute nicht wegzudecken. Im Sommer reüissierte sie an diesem Haus mit „Mord im Orientexpress“ als Regisseurin und Hercules Poirot-Hosenrollen-Hauptdarstellerin.
Wenn die beiden, Brasch/Thalbach (Schuch/Haase), gemeinsam auf der Leinwand zu sehen sind, knistert es in „Lieber Thomas“. Starke Szenen hat Schuch auch mit Anja Schneider. Die Schauspielerin aus dem Ensemble des Deutschen Theaters Berlin gibt Braschs Mutter, wechselt zwischen Sächsisch und Wienerisch. In einer Traumsequenz gegen Ende des Films schießen beide aus einem belagerten Haus: ein Bild, das die verzweifelte Gefühlslage von Brasch spiegelt, der im Westen nie richtig heimisch wurde. Er fühlte sich trotz einiger Preise zu wenig als Künstler respektiert, sondern zu sehr auf seine Biographie als Funktionärssohn, der zum Dissidenten wurde, reduziert.
Diesen Funktionärs-Vater, den stellvertretenden DDR-Kulturminister Horst Brasch, der seinen Sohn nach Flugblattaktionen gegen den Prager Frühling 1968 verriet, spielt Jörg Schüttauf. Als linientreuer Kader bleibt diese Figur aber zu sehr Karikatur. In einem kleinen Zusatz-Auftritt darf Schüttauf auch den Staatratsvorsitzenden Honecker spielen, den er schon 2017 in der Komödie „Vorwärts, immer!“ doubelte.
Mit 2 Stunden 37 Minuten ist das Biopic „Lieber Thomas“ deutlich zu lang geraten. Zu oft fällt der Spannungsbogen ab. Zu selten bekommt Hauptdarsteller Albrecht Schuch die nötigen Reibungsflächen und Widerparte, die es braucht, um die historische Figur Brasch in all ihren Facetten spürbar zu machen.
So bleiben aus der szenischen Collage vor allem einige Momente zwischen Brasch/Thalbach (Schuch/Haase) in Erinnerung, die den Film sehenswert machen.
„Lieber Thomas“ feierte beim Filmfest München im Juli 2021 Premiere und startete am 11. November 2021 in den Kinos. Mit 9 Lolas (darunter bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch, beste Kamera, bester Schhnitt, bestes Szenenbild, Jella Haase als beste Nebendarstellerin und Albrecht Schuch als bester Hauptdarsteller) räumte das Biopic überraschend bei der Deutschen Filmpreis-Verleihung im Juni 2022 ab.
Bilder: © Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany (Foto: Peter Hartwig)