Effingers

Mehr als drei Stunden dauert dieser Abend bereits, als es im Publikum ganz still wird. Julia Gräfners sachliche und doch einfühlsame Beschreibung der Spanischen Grippe, die 1918-20 grassierte, ist einer dieser Theatermomente, in denen man eine Stecknadel fallen hören kann. Dieser kurze Monolog von Klara Effinger über den Tod ihres Sohnes Fritz hallt durch den pandemiebedingt spärlich besetzten Raum. Während in Hamburg und Berlin in letzter Zeit noch vor vollem, maskenlosem Haus gespielt werden durfte, profilierte sich Bayerns Ministerpräsident Markus Söder mal wieder als Chef des „Team Vorsicht“ und lässt nur noch 25 % Auslastung des Saals zu.

In diesem Moment, in dem der Bericht über eine Pandemie auf ein verunsichertes, seit zwei Jahren stressgeplagtes Publikum trifft, kommt Jan Bosses Inszenierung für ein paar Momente zur Ruhe. Regelrecht aufgekratzt springt der Abend ansonsten von Albernheit zu Slapsticknummer und rattert in enormem Tempo die wichtigsten Stationen des 900 Seiten dicken Wälzers der Gerichtsreporterin Gabriele Tergit, der 2019 wiederentdeckt wurde, streng chronologisch herunter.

Viel Ratlosigkeit spricht aus den häufigen Szenen, in denen wieder mal ein Stuhl kaputtgetreten werden muss. Der gefragte Regisseur, der zuletzt auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters Berlin aus Peter Lichts seichter Molière-Überschreibung einen erstaunlich unterhaltsamen Sommer-Theater-Abend zauberte, scheitert diesmal daran, die jüdische Familiensaga „Effingers“ überzeugend auf die Bühne zu bringen. Kathrin Plath durfte in opulenten Kaiserreich-Kostümen schwelgen, auch ein hochkarätiges Ensemble war zur Spielzeiteröffnung der Münchner Kammerspiele versammelt, doch der Abend verzettelt sich darin, eine Strichfassung des Romans auf karger Bühne von Stéphane Laimé nachzuerzählen.

Zu selten kommt das Ensemble ins Spielen. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, die Textmassen zu absolvieren, flüchten sie in Slapstick und Comedy, während auf der Glasfront im Zentrum der leeren Bühne eine Jahreszahl nach der nächsten festgehalten wird. Es gibt immer wieder kurze Momente, in denen spannende Themen wie der antisemitische Druck auf Juden im Kaiserreich, sich christlich taufen zu lassen, oder das rasante Tempo der Industrialisierung angesprochen werden. Doch statt in die Tiefe zu gehen, wird alles nur angetippt, schnell hetzt der Abend weiter zum Standesdünkel, der Ehen verhinderte, oder zu kurzen Schnipseln über die Sufragetten und sozialistische Revolutionäre. Besonders unangenem fällt der Nikotingestank auf, der vor allem in der zweiten Hälfte durch den Raum wabert. Atemlos geht es voran, bis es endlich diesen kurzen Moment der Ruhe von Julia Gräfner gibt.

Doch auch auf der Zielgeraden muss noch einiges verhandelt werden, die Zeit drängt unerbittlich, bevor André Jung als Waldemar Effinger einsam vorne an der Rampe seine beschwörenden Schlussworte sprechen darf: „Auf das Leben – und seine Schönheit“. Das Licht blendet ab, der Bühnenraum wird schwarz. Tergits Epilog, der den Roman im Jahr 1948 enden lässt, bleibt in dieser Inszenierung bewusst ausgespart, die Shoa nur mit dem einsamen Mann, der im Dunkel versinkt, angedeutet.

Bild: Armin Smailovic

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