Frau im Dunkeln

Wenn Blicke töten könnten… Kaum jemand beherrscht diese Mischung aus einem Blick voller Entsetzen und Verachtung wie die britische Schauspiel-Königin Olivia Colman. Ihre Figur Leda Caruso ist eine Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft, die ihren Sommerurlaub genießen will. Gerade als sie sich zu entspannen beginnt, fällt eine Großfamilie mit lärmenden Kindern und präpotentem Clan-Gehabe am Strand ein. Die Blicke, die sie ihnen beim Näherkommen zuwirft, gehören zu den stärksten Szenen dieses Porträts.

THE LOST DAUGHTER. (L-R) PANOS KORONIS as VASILI, OLIVER JACKSON-COHEN as TONI. CR: COURTESY OF NETFLIX

Zu den Höhepunkten des Filmjahres gehört auch die wachsende Verzweiflung der Colman-Figur, als sie es sich im Provinz-Kino-Sessel bei einem nostalgischen Film gemütlich gemacht hat und eine Horde pubertierender, Popcorn-mampfender, grölender, herumalbernder, rücksichtsloser Jungs ihr Kino-Erlebnis zerstört. Solche Situationen hat wohl jeder Filmfreund schon mal erlebt. Sie sind leider traurige Realität und die toxische Kehrseite, die jene zu gerne unter den Teppich kehren, die in Werbespots und Besinnungsaufsätzen ihr süßliches, schönfärberisches Geschwafel vom Gemeinschaftserlebnis Kino verbreiten.

Allein für diese Szenen von Olivia Colman lohnt sich „Frau im Dunkeln“ schon, das die Schauspielerin Maggie Gyllenhaal nach Elena Ferrantes Roman „La figlia oscura“ (2006) im Sommer 2021 in Venedig vorstellte. In dem von Kamerafrau Hélène Louvart gewohnt elegant und subtil in Szene gesetzten Psychogramm einer Frau jenseits der 40 gibt es jedoch eine entscheidende Schwachstelle. Rätselhaft bleibt die Hauptfigur schon in der Roman-Vorlage, auch in der Verfilmung gerät selbst eine Meisterin wie Colman an die Grenzen ihrer Kunst. Die Handlungen der Professorin wirken sehr erratisch, eine Schlüsselrolle nimmt die Puppe ein, die sie einem kleinen Mädchen aus dem eingangs erwähnten Clan klaut. Die Motivation bleibt unergrüdlich…

Stattdessen gerät „Frau im Dunkeln“ (Original-Titel: „The Lost Daughter“) mehrmals gefährlich nah an den Kitsch. Die tobenden Kinder triggern bei Professorin Caruso ausgiebige Rückblenden an ihre Zeit als junge Wissenschaftlerin (gespielt von Jessie Buckley), als sie unter der Doppelbelastung zwischen Karriere und Kinderbetreuung litt und schließlich nach einer Affäre mit ihrem Mentor aus der traditionellen Mutter- und Familienrolle ausbrach.

Angesichts der Schwächen des Drehbuchs, das Gyllenhaal für ihr Regie-Debüt nach der Ferrante-Vorlage auch selbst schrieb, ist es ein weiteres Rätsel, das dieser Film hinterlässt, warum die Jury in Venedig den Silbernen Löwen für das beste Script vergaben. Regisseurin Maggie Gyllenhaal und Hauptdarstellerin Olivia Colman waren auch für einen Golden Globe nominiert, gingen aber hier leer aus.

Schon wenige Monate nach der Premiere startete „Frau im Dunkeln“ in ausgewählten Kinos, seit Silvester ist es auch auf Neflix abrufbar.

Bilder: Netflix

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert