Besonders wohl fühlt sich die finnische Gaststudentin Laura (Seidi Haarla) auf der Akademikerparty in Moskau nicht: ihre lesbische Affäre Irina (Dinara Drukarova) und ihre Peer Group prahlen mit Zitaten, Bildungsfetzen und hohlen Phrasen. Aber wesentlich Schlimmeres erwartet sie, als sie das Zugabteil nach Murmansk besteigt.
Dort hat sich bereits Lyokha (Yuriy Borisov) breitgemacht: ein sehr übergriffiger Zeitgenosse, der Laura offensiv bedrängt und auch sonst kaum Distanz und Manieren hat. Die Aussicht, mit diesem toxischen Typen zusammen mehrere Tage lang engen Raum teilen zu müssen, lässt Laura erschaudern.
Die Schaffnerin weist ihre Bitte nach einem Abteil barsch ab, der sympathische Mann, der so schön „Love is all around“ auf der Gitarre klampft, erweist sich als kriminell und von der Geliebten ist ohnehin keine Hilfe zu erwarten. Die Verfilmung von Rosa Liksoms 2011 erschienenem gleichnamigem Roman spielt in der Umbruchszeit in Russland in den 1990ern, Smartphones sind noch nicht erfunden, Lauras Kontaktversuche und Hilferufe an den Telefonzellen zugiger Zwischenstopp-Bahnhöfe wird von Irina schnell abgebügelt, die sich längst anderweitig orientiert hat.
Dass sich das so ungleiche Paar Laura und Lyokha dann doch näher kommt und sich gemeinsam durch Schnee und Eis bis zu den Petroglyphen kämpft, von denen Lauras Moskauer Bekanntschaften schwärmten, ist zwar dramaturgisch in der Logik dieses Railmovie-Melodrams erwartbar. Was Laura an Lyokha aber plötzlich so attraktiv und sympatisch findet, erschließt sich dem Zuschauer im Kinosaal dennoch nicht so recht. Diese Frage bleibt ungeklärt, als zum Abspann der 80er Jahre-Ohrwurm „Voyage, voyage“ läuft und ist eine entscheidende Schwäche des Films, der seine Figuren zunächst so plastisch einführt und eine atmosphärisch dichte Beschreibung von Russland in den 1990er Jahren schafft.
Bei der Premiere im Sommer 2021 bekam Juho Ruosmanen dennoch den Großen Preis der Jury, den er sich allerdings mit „A Hero“ von Asghar Farhadi teilte, der zufällig am selben Tag, dem 31. März 2022, in den deutschen Kinos startete. Dazwischen hatte „Abteil Nr. 6“ schon eine veritable Festival-Karriere hinter sich: Kuosmanens zweiter großer Film nach „Das glückliche Leben des Olli Mäki“ lief u.a. bei der Viennale, den Nordischen Filmtagen Lübeck, dem auf Osteuropa fokussierten Filmfestival Cottbus und gemeinsam mit „Spencer“ zum Abschluss des Festivals „Around the World in 14 films“ in der Berliner Kulturbrauerei.
Bild: ©2021 Sami Kuokkanen Aamu Film Company