Wenn da nicht die Schleier und die strenge Geschlechtertrennung wären, könnte man zu Beginn meinen, dass „ist“ von Parnia Shams und Amir Ebrahimzadeh auch in einer Schule irgendwo in Westeuropa spielen könnte. Etwas altbacken ist der Frontalunterricht vielleicht, aber die PISA-Studien und die Corona-Pandemie haben ja deutlich gemacht, wie sehr das Schulsystem hierzulande internationalen Standards herhinkt.
Sehr realistisch sind Mobbing und Intrigen gegen die neue Mitschülerin. Dieses Thema toxischer Weiblichkeit ist so universal, dass die Handlung der ersten Hälfte jederzeit auch in der Schule zwei Querstraßen an Ihrem Wohnort spielen könnte.
Langsam wird die Atmosphäre bedrohlicher. Wir erleben immer nur die sechs Mädchen, die gegen eine bedrohliche Wand reden. Mit fünf jungen Spielerinnen von der Sooreh Universität Teheran hat Regie-Studentin Parnia Shams, die auch selbst mit der auf der Bühne steht, ihr Erstlingswerk vor vier Jahren entwickelt. Mehrere Preise gewann „ist“ bei einem Hochschul-Festival in Teheran 2019.
Ausweglos wird die Lage für zwei Mädchen. Nach massiven Vorwürfen werden sie zur Selbstbezichtigung gezwungen, wie sie in Sekten oder totalitären Regimen an der Tagesordnung sind. Dem nur eine Stunde kurzen Abend ist noch deutlich anzumerken, dass es sich um eine Nachwuchsarbeit handelt. Da die „Frauen Freiheit Leben“-Proteste so hohe Wellen schlugen, wird dieses thematisch passende Gastspiel in diesem Frühjahr über die Festivals touren. Den Auftakt machte die Deutschland-Premiere beim FIND-Festival an der Berliner Schaubühne, es folgen Auftritte beim Festival Theaterformen in Hannover, den 22. Internationalen Schillertagen am Nationaltheater Mannheim und dem Festival Theater der Welt 2023.
Am Abschlusswochenende gastierten Wang Chia-ming und seine taiwanesische Compagnie mit dem vielversprechenden Namen „Shakespeare’s Wild Sisters Group“. Während das Publikum noch nach seinen Plätzen sucht, spielt das komplette Ensemble mit den Bühnentechnikern noch eine Runde Badminton, bevor der einminütige Countdown für „Dear Life“ runtergezählt wird.
Dahinter verbirgt sich ein Wimmelbild aus Miniaturen nach Kurzgeschichten aus dem gleichnamigen Band der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro aus dem Jahr 2012: Alltagsbeobachtungen mit skurrilen Twists, die das Ensemble aus Kanada nach Taiwan. Festivalstammgäste erlebten einen thematischen Bogen mit der Demenz einer alten Frau, die in „Dear Life“ ebenso vorkam wie eine Woche zuvor im auf Nachtkritik kontrovers besprochenen japanischen FIND-Gastspiel „Fortress of Smiles“.
Bild: Yin-chieh Chung
In Erinnerung bleiben vor allem die schönen, live zu Gitarre und Klarinette kleinen Popsongs, die nicht nur als Szenen-Trenner dienen, sondern auch in die Geschichen eingewoben wurden. Mit dem 90er-Hit „Zombies“ von den Cranberries endete der mit 135 pausenlosen Minuten doch recht langatmige Abend, bevor der einminütige Countdown rückwärts gezählt wurde und das Publikum nach den Geisterbeschwörungen und Verwicklungen des Gastspiels in die Berliner Realität entlassen wurde.
Bild: Navid Fayaz
betty
Es war „Ode to my family“ von Cranberries, nicht „Zombie“…
Konrad Kögler
Stimmt, vom selben Album, danke