Sturm und Drang

Ganz wie früher! 3,5 Stunden ohne Pause sitzen wir an diesem Sommerabend im Theater und sehen vor allem: Film. Die Live-Kamera-Leute wuseln über die Szenerie (Bühne: Lisetta Buccellato), die vor allem aus einem Gothic-haften, heruntergerockten Imitat des legendären Weimarer Hotel Elephant besteht, in dem Hendrik Arnst als zwielichtiger Concierge Mager sein Unwesen treibt. Auf drei Leinwände wird das Geschehen projiziert, am spannendsten sind natürlich die kurzen Passagen im letzten Drittel, als wir dem Team in die verwinkelten Kellerflure der Volksbühne folgen.

Viel Nostalgie und Retro bietet Julien Gosselin, der in den 2010er Jahren als Wunderkind des französischen Theaters gefeiert wurde und mit „Sturm und Drang – Geschichte der deutschen Literatur I“ erstmals auf einer deutschen Bühne inszeniert. Der Abend ist geprägt von Epigonentum und Verehrung für die stilprägende Ära von Frank Castorf und Bert Neumann. Irgendwann werden per Name-Dropping auch all die anderen großen Namen aus der Geschichte der Volksbühne heruntergerattert: die Schlingensiefs, die Bessons, die Marthalers.

Doch dafür kann sich der monumentale Breitwand-Theater-Abend nur kurz Zeit nehmen, denn er hat sich eine Expedition in die deutsche Literaturgeschichte vorgenommen. Zwei Klassiker sollen miteinander verschränkt werden: Goethes „Die Leiden des jungen Werther“, die Cosmea Spelleken und punkt.live im Lockdown auf so erfrischende Art in die Social Media-Gegenwart übersetzten und an denen sich Ewelina Marciniak so verhob, montieren Gosselin und sein Team mit Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“ zusammen. Und wie es sich für einen Castorf-Gedächtnis-Abend gehört, werden natürlich noch viele weitere Text-Fragmente hineingeschnipselt: Seinen ersten, späten Auftritt hat Martin Wuttke, eine der zentralen Figuren der alten Volksbühne und in der Kollektiv-Intendanz der neuen Volksbühne, als Aschenbach aus Thomas Manns „Tod in Venedig“. Aber auch Ernst Jünger, Friedrich Hölderlin und einige mehr kommen an diesem überlangen Abend zu Gehör: im Hollywood-Stil flimmern die Namen im Intro über die später so ausgiebig genutzte Leinwand.

„Sturm und Drang“ ist nicht nur für Castorf/Neumann-Nostalgiker, sondern auch ein Fest für Literatur-Nerds, die Spaß daran haben, nachzuspüren, wie hier die Textstellen zusammengepuzzelt werden, und sich an den Anspielungen erfreuen. Tief hat sich Gosselin in die Werke eingegraben. Im knappen Programmblättchen erzählt er von seiner Faszination für diese „tote Materie“, die er wie ein Archäologe durchwühlt und dabei die Scherben seiner Fundstücke neu zusammensetzt. In der ersten Hälfte hat dies durchaus Raffinesse und liegt über dem Niveau banaler Soaps und schludriger Stückentwicklungen, mit denen wir viel zu oft in dieser Spielzeit konfrontiert waren. Aber das Problem des Abends ist, dass diese Art von selbstreferentiellem Literatur-Nerd-Theater spaltet: einige jubeln, aber die Absprungrate Richtung Saaltür war so hoch wie zuletzt nur bei Christopher Rüpings Theatertreffen-Eröffnung: der auf Twitter vieldiskutierte Publikumsschwund und seine Ursachen lassen sich am besten doch live studieren.

Gosselin und Pollesch haben angekündigt, dass dieser Trip in die Literaturgeschichte auf mehrere Spielzeiten angelegt ist. Eine spannende Frage, ob diese Produktions-Reihe Kultstatus gewinnt oder bald vor halbleerem Haus spielen muss.

Ästhetisch orientiert sich Gosselin in der ersten Hälfte stark am Historien- und Kostümfilm-Realismus der DEFA-Verfilmung „Lotte in Weimar“ (1975) von Egon Günther. Rosa Marie Tietjen, langjährige Pollesch-Spielerin, fühlt sich ganz ungewohnt in die Rolle des schwärmerischen Werther ein, der hier mal wieder geschlechterverkehrt besetzt ist. Die doppelte Lotte, das Verbindungselement der Werke von Goethe und Mann, spielt die Französin Victoria Quesnel, manchmal in ihrer Muttersprache, häufig mit starkem Akzent. Wenn es zu kitschig zu werden droht, sorgen Arnst (als Mager), Benny Claessens (als Doktor Riemer) und Rosa Lembeck (als Adele Schopenhauer) für ironische Brechungen.

Überraschend ist, wie sehr sich Benny Claessens, der seinen Ausflug an Polleschs Volksbühne bei seinem großen Rampensau-Auftritt in Ersan Mondtags Gorki-Revue „It´s going to get worse“, angekündigt hat, hier in den Dienst der Sache stellt. Der Schauspieler des Jahres 2018 hält sich ganz untypisch im Hintergrund und gibt sich im Walle-Kleidchen ätherischem Ausdruckstanz hin. Die Bühne gehört in der letzten Stunde einem: Martin Wuttke! Er spielt die Literatur-Heroen Goethe und Mann, vor allem aber sich selbst. Das Konstrukt aus der Verschränkung verschiedener Roman-Textflächen und philosophischer Essays sprengt Wuttke und legt einen delirierenden Auftritt an. Szenisch ist das natürlich der stärkste Teil des Abends, aber einigen im Publikum reißt nun endgültig der Geduldsfaden.

Bilder: Thomas Aurin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert