Der zweite Teil von Karin Beiers/Ronald Schimmelpfennigs Antiken-Marathon „Anthropolis“ ist ganz auf den Liebling des Hamburger Publikums zugeschnitten:

Lina Beckmann darf in dem 90minütigen „Laios“-Monolog einige Register ihres Könnens ziehen. Auf der bis zur Brandmauer geöffneten, fast leeren Bühne von Johannes Schütz wechselt sie munter die Rollen und Perspektiven. Alles steuert natürlich auf den Orakel-Spruch von Delphi zu: bei Beckmann ist Pythia eine schrullige alte Frau, die unter Hustenanfällen den Fluch herauswürgt, der auf dem Haus der Atriden und dem Sohn von Laios und Iokaste lastet.

Wenn Beckmann nicht gerade den Laios in all seinen Entwicklungsstufen – als im Wald ausgesetztes, blutverschmiertes Kind, als junger Liebhaber von Chrysippos oder als nach Theben zurückgerufener König – gibt, dann übernimmt sie einfach alle anderen Rollen gleich mit. Neben der Gattin Iokaste performt Beckmann die komplette Ratsversammlung oder als besonderes Kabinettstücken die Sphinx als Mischwesen aus Frau, Vogel und Katze im blauen Pailetten-Kleid.

Lina Beckmann schwitzt, spuckt, faucht, tanzt und fragt im Stil der wohlmeinenden Grundschullehrerin nebenbei auch noch ab, ob das Publikum bei Teil 1 des Marathons richtig aufgepasst hat und all die Namen richtig zuordnen kann.

Bild: Monika Rittershaus

Das ist eine sichere Bank für ein volles Haus mit anschließendem Jubel für den Star, aber doch nur ein kleines Intermezzo im Serien-Marathon. Lina Beckmann trägt die 90 Minuten bis auf kurze Videoeinspieler auf der Zielgeraden und kommt ganz ohne „Anspielwurst“ aus. Natürlich bewältigt sie auch das. Aber es bleibt eine virtuose Fingerübung. Wer Lina Beckmann in Höchstform über die Langstrecke erleben will, sollte sie sich als Richard the Kid and the King ansehen.

Während die ausufernde Shakespeare-Arbeit damals nicht über die tt-Shortlist hinauskam, lag die Theatertreffen-Jury Lina Beckmanns Virtuosität zu Füßen und lud sie in die 10er Auswahl 2024 ein. In derselben Woche war das „Laios“-Solo auch beim Mülheimer Uraufführungs-Festival zu sehen. Dort gewann es den Publikumspreis, scheiterte jedoch in der Jury-Diskussion um den Mülheimer Dramatikpreis in der Finalrunde. Kurz davor wurde „Laios“ auch schon beim Heidelberger Stückemarkt gefeiert.

Im August 2024 räumten Lina Beckmann und das „Laios“-Team auch auf der Theater heute-Jahresbesten-Liste ab: mit einem neuen Rekord von 26 Stimmen wurde Beckmann zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Nach 2011 und 2022 bekommt sie diese Ehre bereits zum dritten Mal. Den Titel „Inszenierung des Jahres“ teilt sich „Laios“ mit der „Hundekot-Attacke“ aus Jena, außerdem wurde es als Stück des Jahres ausgezeichnet. Sybille Meier teilt sich den Titel „Dramaturgin des Jahres“ für den gesamten „Anthropolis“-Marathon mit Kolleginnen aus Bochum und Jena. Last but not least wurde Karin Beiers Schauspielhaus Hamburg auch als „Theater des Jahres“ ausgezeichnet. Im Spätherbst 2024 folgte schließlich noch der österreichische Nestroy für die beste deutschsprachige Produktion.

Vorschaubild: Thomas Aurin

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