Mothers – A Song for Wartime

Zur Halbzeit des 6. Gorki-Herbstsalons gastiert Marta Górnicka, langjährige Webegleiterin des Hauses, mit der Berlin-Premiere eines politischen Manifests. Wie üblich steht die polnische Regisseurin in Reihe 10 mitten im Zentrum des Publikums und dirigiert ihren Chor von dort live. Natürlich ist das Chorprojekt „Mothers – A Sonf for Wartime“ handwerklich auch diesmal mit der gewohnten Akribie choreographiert, hier stimmt jeder Einsatz.

Neu ist, dass Górnicka diesmal mit Frauen und einem Mädchen arbeitet, die aus der Ukraine und Belarus in unser östliches Nachbarland geflohen sind. Langsam tastet sich der Abend an sein Thema heran: mit Volksliedern gibt sich „Mothers – A Song for Wartime“ zunächst ganz unpolitisch, aber schon hier werden auf die Rückwand psychoanalytische Kommentare projiziert, dass Verdrängung ein bekanntes Muster ist, wenn Körper und Seele tiefe, traumatische Schmerzen nicht verarbeiten können.

Von einem besonderen Trauma, das nicht nur in der Ukraine als Waffe eingesetzt wird, erzählt der Abend im anschließenden dokumentarischen Teil: Vergewaltigung als Kriegsverbrechen und ihre seelischen Auswirkungen auf die Opfer.

In der nächsten Passage wird dies mit einer Anklage an das restliche Europa kontrastiert: der Westen schaue immer noch weg, sei von seiner eigenen kriegerischen Vergangenheit traumatisiert und nehme im aktuellen Krieg weiterhin eine zu abwartende Haltung ein. Dem ironisch eingesetzten Schlaflied folgen wütende, stampfende Anklagen: dies ist das charakteristische Bau-Prinzip des Abends.

In einem kurzen arte-Beitrag erklärte Górnicka, dass sie ihren Chor als Kassandra sehe, der die westlichen Gesellschaften zwinge, hinzusehen, obwohl sie lieber verdrängen würden. Die Wucht des Kollektivs sei dafür ein besonders gutes künstlerisches Mittel.

Der Chor löst sich in lauter Individuen auf: jede Einzelne nennt ihren Namen, viele erzählen kurze Geschichten von ihrer Flucht, ihren Erlebnissen im angegriffenen Kyiv im Februar 2022 oder ihrem Widerstand in Belarus. Dies mündet in den Appell an das westliche Publikum, weiter hinzusehen: von der Empathie unserer Gesellschaften hängt es ab, ob die Situation in der angegriffenen Ukraine irgendwann in den kommenden Monaten nach langem Stellungskrieg mehr und mehr aus dem Bewusstsein gerät, mahnt Górnickas Libretto, das sie gemeinsam mit den Frauen entwickelt hat.

Mit einem mehrfach in den Saal geschmetterten „Never Again!“ endet dieses nur eine Stunde kurze Manifest, das nach der Voraufführung in Avignon und der Premiere vor wenigen Wochen am Teatr Powszechny Warschau bei der heutigen Berlin-Premiere langanhaltenden Applaus erntete.

Bild: © Bartek Warzecha

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