Anatomie eines Falls

Die Handlung dieses 2,5stündigen Films ließe sich sehr knapp zusammenfassen: Samuel (Samuel Theis) wird tot im Schnee gefunden. War es ein Unfall, als er das Dachgeschoss ausbauen wollte? Sprang er in den Suizid? Oder hat ihn seine Frau Sandra (Sandra Hüller) ermordet? Diese Frage soll eine Geschworenen-Jury in Grenoble aufklären.

Wie Hauptdarstellerin Hüller und das Drehbuch-Duo (Justine Triet und Arthur Harari) aus diesem knappen Exposé ein intensives Psycho-Drama entwickeln, ist ein besonderes Kino-Ereignis. Stundenlang wird um die Wahrheit gerungen, werden neue Indizien bewertet, Experten gehört und privateste Details aus einer offensichtlich schwierigen Ehe ausgebreitet.

Die große Leistung von Hüller und Triet ist es, dass sie die Wahrheitssuche bis zum Schluss in der Schwebe halten. Das Pendel schwingt mal leicht in diese Richtung, kurz danach aber schon in jene Richtung: Die Staatsanwaltschaft konfrontiert die Star-Schriftstellerin Sandra Voyter mit bohrenden Nachfragen und Details, die es sehr wahrscheinlich erscheinen lassen, dass sie die Mörderin ist. Zu zerrüttet wirkt diese Ehe für Außenstehende. Das fast 10 Minuten lange, von ihm heimlich auf dem Handy mitgefilmte Streitgespräch in der Küche der Familie, in dem Samuel seiner Partnerin vorwirft, dass sie ihm Ideen klaue, ihn einenge, er sein ganzes Leben nur um sie herum planen müsse, kontert sie jedoch mit so luziden Argumenten und so souverän, wie sie auch später im Gerichtssaal allen Vorwürfen widerspricht. Deshalb gibt es auch häufige Momente, in denen der Zuschauer fast sicher ist: Nein, diese Frau ist keine Mörderin und wird hier als Unschuldige im Verhör in die Enge getrieben.

Hüller ist das Zentrum dieses Films, ohne eine Ausnahmekönnerin wie sie, würde dieses fragile Konstrukt scheitern. Sie schafft es, „beide Frauen zugleich zu sein, die Schuldige und die Unschuldige. Die Täterin und das Opfer. Das Monster und die hilflos Entstellte“, wie Philipp Stadelmeier in seiner SZ-Hymne schrieb. Selbst für ihre Verhältnisse spiele Hüller herausragend. Nach der Goldenen Palme für „Anatomie eines Falls“ in Cannes wurde ihr beim Filmfest Hamburg vor vier Wochen der Douglas Sirk-Preis für ihre schauspielerische Leistung.

Neben Hauptdarstellerin, Regisseurin und Drehbuch-Duo verdient aber auch ein wichtiger Nebendarsteller eine besondere Erwähnung: Milo Machado Graner spielt Daniel, den nach einem Unfall sehbehinderten Sohn des Paares Samuel/Sandra, der die Leiche fand, als er vom Spaziergang mit seinem Hund zurückkam. Er sitzt wie das Publikum zwischen den Stühlen, muss entscheiden, welcher Version er glauben kann, und muss vor Gericht mehrfach als Zeuge aussagen, verstrickt sich dabei aber in Widersprüche.

Wie Sandra Hüller bei einem Nachgespräch mit Hans-Christian Schmid im Delphi Filmpalast betonte, mit dessen „Requiem“ sie 2006 den Silbernen Bären der Berlinale gewann und ihren Durchbruch feierte, sollte man „Anatomie eines Falls/Anatomie d’une chute“ unbedingt in der Original-Version mit Untertiteln sehen. In der Synchronfassung geht eine wesentliche Ebene in der schwierigen Beziehungskonstellation von Sandra und Samuel verloren: die Deutsche und der Franzose lernten sich in London kennen, zogen gemeinsam in das abgelegene Bergdorf, aus dem Samuel stammt, und sprechen weiter nur Englisch miteinander. Die Hauptfigur Sandra beherrscht die französische Sprache nach wie vor nicht besonders gut, so dass sie bei den Befragungen vor Gericht zusätzlichem Stress ausgesetzt ist und um die präzise Formulierung ringt.

„Anatomie eines Falls“ startete am 2. November 2023 in den deutschen Kinos.

Knapp einen Monat später wurde Sandra Hüller als beste Hauptdarstellerin mit dem Europäischen Filmpreis 2023 ausgezeichnet, auch in der Kategorie „Bester Film“ gewann „Anatomie eines Falls“. Im Januar 2024 folgten zwei Golden Globes für das beste Drehbuch und den besten nicht-englischsprachigen Film, Sandra Hüller war als beste Hauptdarstellerin, konnte sich aber hier nicht gegen Lily Gladstone durchsetzen. Auch bei den Oscars gab es einen Preis für das beste Originaldrehbuch, Sandra Hüller konnte sich als beste Hauptdarstellerin nicht gegen Emma Stone durchsetzen.

Bilder: © LesFilmsPelleas/LesFilmsDePierre

 

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