1984

Zu der übersichtlichen Gruppe jener Romane, die jeder in seinem Leben lesen sollte, zählt die meisterhafte Totalitarismus-Parabel „1984“ von George Orwell. Von der euphemistischen „Neusprech“-Umwertung negativ konnotierter Begriffe über das Schüren von Feindbildern bis Rund-um-die-Uhr-Video-Überwachung beschrieb er viele Phänomene, die unsere aktuellen Debatten prägen: mal als erstaunlich präzise Beschreibung mit hohem Wiedererkennungswert, mal als drohende Endpunkte sich abzeichnender Entwicklungen.

Ungewöhnlich ist die Lesart von Luk Perceval: er konzentriert sich weniger auf die Gesellschaftsbeschreibung als auf die Figur von Winston Smith. Bei Orwell ist diese Figur ein Mitläufer aus der „Äußeren Partei“, der die Aufgabe hat, historische Fakten in den Archiven so anzupassen, dass sie für das jeweilige Zeitgeist-Narrativ der Big Brother-Narrativ passen. Dieser Hintergrund spielt in der Inszenierung am Berliner Ensemble keine Rolle. Hier erleben wir Smith als einen x-beliebigen Büro-Angestellten im grauen Anzug und vor allem als hochgradig neurotische, verängstigte und verunsicherte Figur. Bis auf Julia (gespielt von Pauline Knof und drei Sängerinnen) sind alle anderen Figuren des Romans, selbst O´Brien, der ihn in die Falle lockt und foltert, nur Stimmen im Kopf des auf vier Spieler aufgesplitteten Winston.

Vor Philipp Bussmanns Spiegelkabinett tastet sich das Quartett Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar und Veit Schubert langsam an ihre Figur heran. Für ihren angststarr in die Ferne gerichteten Blick gibt es bald eine Erklärung: sie lesen den gesamten Text, den sie zum Teil chorisch, häufiger aber im Wechsel sprechen, vom Teleprompter im Rücken des Publikums ab.

In der ersten Hälfte betont Perceval das Tragikomische an Winstons Persönlichkeitsstruktur: wenn sich das Quartett unsicher an Julia heranmacht, werden die gehemmten Annäherungsversuche zur Slapstick-Nummer. Der „1984“-Abend scheint in ganz unerwartete Bahnen abzudriften, durchaus zur Freude großer Teile des vor sich hinglucksenden Publikums, das auf düstere Endzeit-Visionen eingestellt war.

Einen kleinen Gag gönnen sich Perceval und sein Team auch während der Pause: das Publikum kann entweder im Saal bleiben oder durchs Foyer flanieren. Vor der Indoktrination durch lange Polit-Monologe, die im bewährten Ping-Pong vom Teleprompter abgelesen werden und über Lautsprecher nach draußen übertragen werden, gibt es kein Entkommen.

In den abschließenden 45 Minuten nimmt der Abend dann doch noch den erwarteten Verlauf: Lichtstimmung und Erzählweise werden düsterer, das Quartett nimmt Anlauf für die große Konfrontation zwischen Winston und O´Brien. Perceval achtete jedoch stark darauf, dass die brutale Machtausübung und die Folter nur auf der sprachlichen Ebene präsent sind, im Spiel werden sie nur dezent angedeutet. Ein großer Unterschied zur Roman-Vorlage ist wiederum die Schluss-Szene: das BE-Team lässt „1984“ bewusst mit einem Hoffnungsschimmer enden. Hier könnte es für Winston und Julia trotz Folter und Verrat doch noch einen Ausweg in eine gemeinsame Zukunft geben, als sie sich im Café treffen. Die Roman-Vorlage bietet für solchen Optimismus jedoch kaum Anlass und macht deutlich, dass Winston von der totalitären Macht gebrochen wurde.

Schöne Akzente setzt an diesem Abend der dreiköpfige Frauen-Chor um Annunziata Matteucci. Der für die Musik verantwortliche Rainer Süßmilch erklärt im Programmheft, dass sie auf fast vergessene Gesänge aus Italien und Korsika spezialisiert ist. Ihre Melodien, die sich durch den Abend ziehen, klingen fast wie lateinische Choräle und geben der oft zur Komik neigenden Inszenierung eine archaisch-tragische Note.

Nach seinem hölzernen Einstand am Berliner Ensemble mit Lion Feuchtwangers „Exil“ gelingt dem belgischen Altmeister Luk Perceval mit „1984“ ein über weite Strecken kurzweiliger und sehenswerter Theaterabend, der einen ungewöhnlichen Blick auf den Klassiker wirft. Von der Komplexität des Romans und den politischen Bezügen geht allerdings bei dieser Bühnen-Adaption viel verloren.

Bilder: Jörg Brüggemann

 

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