Das vielversprechende Debüt „Jia ting jian shi“ (internationaler Titel: „Brief History of a Family“) von Lin Jianjie bekam eine Doppel-Einladung nach Sundance, wo der Film am 19. Januar 2024 Premiere feierte, und ins Panorama der Berlinale.
Der Filmemacher setzt sich sehr kritisch mit der Ein-Kind-Politik, die von 1980 bis 2016 in der Volksrepublik China galt. Den enormen Erwartungsdruck, der auf den einzigen Sprößlingen lag, beschreibt der Film sehr realistisch am Beispiel von Tu Wei (Muran Lin) und seinen überambitionierten Eltern (Ke-Yu Guo und Feng Zu). In diese beengte Kleinfamilie bricht eine Figur ein, die Züge aus „Saltburn“ von Emerald Fenell und „Teorema“ von Pier-Paolo Pasolini vereint. Tu Weis Mitschüler Yan Shuo (Xilun Sun) erregt das Mitleid der gutsituierten Familie: die Geschichten von seinem gewalttätigen Vater und seiner prekären Lage schmeicheln ihrem Helfer-Syndrom. Immer häufiger und selbstverständlicher taucht der fremde Junge in der Familie auf.
Er manipuliert die Gastgeber geschickt, trifft aber genau den wunden Punkt der Familie: sie projizieren die Sehnsucht nach einem zweiten, von der Staatsführung verbotenen Kind auf ihn. Der Fremde ist begabter, fleißiger und strebsamer als ihr eigener Sohn und wird schnell zum Liebling. Statt Tu Wei, der lieber an einem Fecht-Kampf teilnimmt, fährt Yan Shuo mit seiner Wahlfamilie in den teuren Urlaub.
Absehbar, dass sich die Rivalität zwischen den beiden Jungen zuspitzt… Lin Jianjie erzählt sein Psychodrama in unterkühlten Einstellungen mit kurzen Eruptionen von Gewalt oder Gewaltfantasien, das Wesentliche bleibt in dieser Familie ungesagt.
Bild: © First Light Films, Films du Milieu, Tambo films