Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert

Henrik Ibsens „Nora“ zu überschreiben und zu dekonstruieren, ist wahrlich keine neue Idee. An kaum einem Klassiker wurde in den vergangenen Jahrzehnten so viel herumgedoktert und herumgeschraubt wie an diesem Stück aus der Endphase des 19. Jahrhunderts über eine bürgerliche Frau, die aus ihrer Ehe ausbricht. Elfriede Jelineks „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Die Stützen der Gesellschaften“ erschien schon 1979. Im vergangenen Jahr war eine „Nora“-Überschreibung junger Autorinnen im Auftrag der Münchner Kammerspiele zum Theatertreffen eingeladen.

Schon für diesen Abend hat die israelische, in Berlin lebende Autorin Sivan Ben Yishai einen Prolog geschrieben, dem sie ein Jahr später nun ein ganzes Stück folgen lässt. Unter all den Nora-Interpretationen hat sie eine Nische entdeckt: Sie stürzt sich auf die Nebenfiguren, die Prekarisierten und Abgehängten. Das Hausmädchen Helene (Lisa Birke Balzer), das Kindermädchen Anne-Marie (Steffi Krautz) und ein namenloser Paketbote (Peter René Lüdicke) rückt Ben Yishai ins Zentrum ihrer Betrachtung.  

Noras feministischer Befreiungskampf wird zum Egotrip einer verwöhnten Diva. Von oben herab behandelt die Titelfigur (Anja Schneider) ihre Domestiken und Dienstleister. In Ben Yishais kleinem Metatheater-Spaß wird aus Nora eine ausbeuterische Kulturbetriebsunternehmerin, so dass die Autorin ihre intersektionale Kritik am Feminismus bürgerlicher Frauen der vergangenen Jahrzehnte mit einem weiteren Lieblingsthema kurzschließen kann: dem prekären Status von Nebenrollen-Spielern und Kleindarstellern, der sie auch im Betriebs-Kabarett „Bühnenbeschimpfung“ umtrieb, das vor einem Jahr am Gorki Theater uraufgeführt wurde.

Bühnenbild von Mila Mazić

Das Problem des 100 Minuten kurzen Abends ist, dass Ben Yishai und ihre Übersetzerin Gerhild Steinbuch ihr Thesenstück so überdeutlich ausbuchstabieren. Zu papieren bleibt über weite Strecken auch die Inszenierung von Anica Tomić, die laut Programmzettel aus der feministischen Off-Szene Kroatiens stammt und schon bei Iris Laufenbergs Grazer Intendanz inszenierte. Die Regisseurin verlegt sich darauf, den Text zu bebildern. Kleine choreographische Einlagen von Lada Petrovski Ternovšek können nicht überdecken, dass es hier kaum Handlung, stattdessen viel Belehrung gibt. Immerhin gibt es immer wieder kleine komische Nummern, z.B. Peter René Lüdickes Lamento, dass er doch ein gestandener Schauspieler sei, das sogar studiert habe und von Nora hier nun mit einer Minirolle und ähnlich dürftiger Bezahlung abgespeist sei. Aber auch der Lernstoff ist so dünn, dass er  nur mit Mühe über 100 Minuten trägt. Der Epilog von Christine (Natali Seelig) ist von einer Ausdruckstanz-Nummer unterlegt und einer der lebendigeren Momente an diesem Thesentheater-Abend, fasst aber lediglich noch mal Moral von der Geschichte zusammen, falls irgendwer immer noch nicht kapiert haben sollte, worauf Ben Yishai hinauswollte. Der mehrgeschossige Bühnenaufbau (Mila Mazić) ist dann bereits vom Prekariat (Balzer/Krautz/Lüdicke und sieben Statist*innen) gestürmt, dem Erdboden gleichgemacht un den Maden zum Fraß vorgeworfen.

Natali Seelig beim Epilog

Die Autorin gehört sicher zu den interessantesten neuen Stimmen, die sich im vergangenen Jahrzehnt etabliert haben. Ihr neuer Text gehört aber, wie auch schon Michael Laages in seiner Nachtkritik zur Uraufführung, die vor zwei Wochen in Hannover stattfand, zu den schwächeren Arbeiten.

„Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“ hatte am 27. Januar 2024 in der Kammer des Deutschen Theaters Berlin Premiere.

Bilder: Jasmin Schuller

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