Anatevka

Die Gründe, warum der damalige Intendant Barrie Kosky diesen Broadway-Musical-Hit zum 70. Geburtstag der Komischen Oper im Dezember 2017 inszenierte, leuchten unmittelbar ein. Auch sein Großvater musste wie die Familie des Milchmanns Tevje vor antisemitischen Pogromen aus einem jüdischen Schtetl in Osteuropa fliehen und lebte zerstreut über den Globus, Kosky ist bekanntlich in Australien aufgewachsen. Das Erstarken rechtspopulistischer Strömungen und rechter Terror waren schon zur Premiere vor etwas mehr als sechs Jahren eine nicht zu übersehende Bedrohung und sind es heute, bei der Wiederaufnahme im Renovierungs-Ausweichquartier im Schillertheater, erst recht.

Aber leider treffen die Bedenken von Jerome Robbins, der Welthits wie die „West Side Story“ schuf und als Regisseur und Choreograph die Uraufführung im Imperial Theatre am Broadway im September 1964 verantwortete, gegen die „Anatevka“ immer noch zu. Im stets sehr akribisch recherchierten und gestalteten Programmheft zeichnet Dramaturg Simon Bauer nach, was Robbins an dem Konzept des Trios Joseph Stein (Buch), Jerry Bock (Musik) und Sheldon Harnick (Gesangstexte) basierend auf Geschichten von Scholem Alejchem, bemängelte: der Stoff über einen jüdischen Familienvater, der darunter leidet, dass seine Töchter nicht der Tradition vermittelter/arrangierter Ehen gehorchen, sondern eigene Wege gehen, eine sogar einen orthodoxen Christen heiratet und am Ende mitansehen muss, wie sein ganzer Dorf-Mikrokosmos verjagt und dem Erdboden gleichgemacht wird, ist über weite Strecken in Form von Monologen gehalten, die Max Hopp in der Rolle des Milchmanns Tevje als Mischung als alter Kauz und trauriger Clown stemmen muss. Denkbar undramatisch, dazu noch viel zu lang, oft redundant und am Ende allzu sentimental erschien Robbins die Vorlage.

An diesen Mängeln konnte auch Barrie Kosky nichts Entscheidéndes beheben. Streckenweise zäh fühlen sich diese dreieinhalb Stunden an, die als Panorama jüdischer Folklore mit einer vor sich hin schnoddernden Dagmar Manzel (als Tevjes Frau Golde und Mutter von fünf Töchtern) beginnt und als Kammerspiel über antisemitische Pogrome im kitschigen Schneetreiben versandet.

„Anatevka“ hatte am 3. Dezember 2017 an der Komischen Oper Premiere und wurde am 2. Februar 2024 für die aktuelle Spielzeit im Schillertheater wiederaufgenommen.

Bild: Iko Freese/drama-berlin.de

 

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