Identitti Rezeptionista

Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal landete mit ihrem Roman „Identitti“ einen Bestseller-Hit im Lockdown-Frühjahr 2021. Die identitätspolitischen Fragen, über die sich an Universitäten und noch mehr auf Twitter (heute: X) die Köpfe heiß reden, verhandelt sie in einer satirisch überzeichneten Versuchsanordnung: Saraswati (Vernesa Berbo), die Star-Professorin für Postcolonial Studies, hat gar keinen indischen Migrationshintergrund, sondern ist eine weiße Frau namens Sarah Vera Thielemann. Ihre Studentin Nivedita (Katrija Lehmann) ist empört und wirft ihr kulturelle Aneignung vor.

Vernesa Berbo als Saraswati

Regisseurin Simone Dede Ayivi, die dem Berliner Publikum vor allem aus den Sophiensaelen bekannt ist, nahm sich die identitätspolitischen Verstrickungen des Romans vor. In den knapp 100 Minuten wird allerdings nicht nur die Handlung nacherzählt, das Ensemble tritt aus den Rollen, berichtet über eigene Erfahrungen und markiert Leerstellen und Fragen.

Die selbstreferentiellen Debatten, mit denen sich die Romanfiguren quälen, passen nur schwer in den kurzen Theaterabend. Der Abend ächzt streckenweise unter der Diskurs- und Thesen-Last. Interessanter wird es dann, wenn die Spieler*innen aus ihren Rollen treten: die Bosnierin Vernesa Berbo erzählt von den schwierigen Anfängen, als sie aus dem belagerten Sarajevo nach Deutschland floh und statt großer Hauptrollen wie Lady Macbeth russische Prostituierte spielen sollte. Den Aufbruch des postmigrantischen Theaters in den 2010er Jahren am Ballhaus Naunynstraße und später am Gorki Theater erlebte sie als Befreiung, aber auch als Falle, wieder nur auf eine Nische festgelegt zu sein. Iman Tekle, in Eritrea geboren und in Köln aufgewachsen, erzählt in längeren Einschüben von den Schwierigkeiten einer PoC-Spielerin und über die Frage: Wer darf wen spielen? Tekle kennt das Berliner Publikum bereits aus dem Glossy Pain-Überraschungs-Hit „Sistas!“, der 2022 im 3. Stock der Volksbühne herauskam und mittlerweile auf die große Bühne umzog. Die identitätspolitischen Fragen verhandelt auch dieser Abend, allerdings mit mehr Zeit und Leichtigkeit, anhand einer Überschreibung des Tschechow-Klassikers „Drei Schwestern“.

„Identitti Rezeptionista“ wirkt thesenhafter und stärker am Reißbrett entwickelt. Die Roman-Adaption entstand im März 2023 am Schauspielhaus Graz. Intendantin Iris Laufenberg brachte sie mit nach Berlin, wo sie seit 29. Oktober 2023 in der Box des DT zu sehen ist.

Bilder: Thomas Aurin

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert