Die Unschuld – Monster

Der japanische Meisterregisseur Hirokazu Kore-eda ist ein Stammgast in Cannes: zum 7. Mal war er im Mai 2023 in den Wettbewerb des glamourösesten Film-Festivals eingeladen. Das Ungewöhnliche: er verfilmte diesmal keine eigene Geschichte, sondern ein Drehbuch von Yūji Sakamoto.

Dieses Drehbuch ist eine Verneigung vor einem Klassiker des japanischen Kinos: wie in Akira Kurosawas „Rashomon“ (1950) wird das Geschehen nacheinander aus drei verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Leitmotivisch werden die Episoden durch einen Hochhausbrand in einer nächtlichen Stadt und einen geheimnisvollen Tunnel als Rückzugsort verbunden.

Im Zentrum des Geschehens steht die Mobbing-Gewalt, die an einer Schule grassiert. Dieses universelle Phänomen kleiner Monster ruft die besorgte alleinerziehende Mutter Saori (Sakura Andō) auf den Plan, die rätselhafte Veränderungen bei ihrem Sohn Minato (Soya Kurokawa) feststellt. In einer Karikatur japanischer Höflichkeitsrituale wird der Lehrer Hori (Eita Nagayama) von der Direktorin gedrängt, in Floskeln Schuld auf sich zu nehmen: ein grotesker Vorgang, der niemand überzeugt.

Mutter Saori und Sohn Minato

Die zweite Episode schildert die Vorfälle aus der Perspektive von Hori, der hier plötzlich nicht mehr als übergriffiger Lehrer, sondern etwas zu linkischer, aber wohlmeinender Pädagoge erscheint. Aus seiner Sicht ist Minato ein Täter und mobbt den Klassenkameraden Yori (Hinata Hiiragi).

Die nächste Volte entkräftet diesen Vorwurf: Minato ist kein Täter, sondern fühlt sich zu Yori hingezogen, möchte ihn vor den anderen Kindern beschützen, will sich jedoch homoerotische Gefühle nicht eingestehen. „Der japanische Titel, „Kaibutsu“, bezieht sich auf etwas Ungeheuerliches, das sich der Vernunft entzieht, es ist eher eine negative Kraft als ein greifbares Monster. Für die Mutter der Familie ist das Monster die Schule. Für die Schule ist es die Mutter. Für den Jungen, dem seine Andersartigkeit zur Last gelegt wird, ist das Monster in seinem Inneren“, erklärte Kore-eda im Interview mit der taz.

Dieser Erzählstrang einer zarten ersten Annäherung wurde in Cannes mit der Queer Palm, dem Pendant zum Teddy, ausgezeichnet. Außerdem wurde „Die Unschuld – Monster“ mit einer Silbernen Palme für das Drehbuch von Yûji Sakamoto prämiert. Eine Entscheidung, die nicht nur SZ-Kritiker Philipp Bovermann unverständlich fand: das Drehbuch ist streckenweise sehr plakativ geraten und erreicht nicht die Qualität der feinsinnig-raffinierten Geschichten, die Kore-eda in seinen letzten Filmen „Shoplifters – Familienbande“ oder „Broker“ erzählte.

Der Film ist auch ein Abschiedswerk: zum letzten Mal ist hier Musik von Ryuichi Sakamoto zu hören, dessen Score vor allem das letzte Drittel unterlegt und umschmeichelt. Noch vor der Premiere in Cannes ist er im Frühjahr 2023 an Krebs gestorben.

Auch wenn es ein schwächerer Film im Werk des japanischen Meisterregisseurs ist, tourte „Die Unschuld“ über die Festivals. Im vergangenen Jahr lief er z.B. in München und San Sebastian, bekam den Publikumspreis in Vancouver. Deutscher Kinostart war der 21. März 2024.

Bilder: © 2023 MONSTER Film Committee

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